Leerzug

Das Wort klingt nach Bahnhof: eine alte Lokomotive zerrt scheppernde Waggons zum Abstellgleis; leicht und frei klappern Räder über Weichen und Stöße: Leerzug: keine Ladung, kein Mensch, nix. Wohlwollend und voll schlecht verhohlener Häme nimmt die Auto-Lobby zur Kenntnis, daß das von ihr zum Scheitern verurteilte Experiment „Rollende Landstraße“ aufgegeben ist. „Kein Bedarf“, hieß es, leere Züge gehören nicht auf die Strecke.

Leerzug: Ebensogut und ebensogern läßt sich eine Verbindung zum Wohnungswesen herstellen: So nach und nach, mit Geduld und sanfter Gewalt werden Mieter und Eigentümer veranlaßt, wegzuziehen: Leerzug.

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts war das die Perspektive Altkötzschenbrodas: Leerzug.

Das marode Mauerwerk sollte weggebracht, schöne, helle, moderne, sozialistische Wohnblöcke auf dem dann „freien Boden“ errichtet werden.

Freilich gab es Übergangszeiten zu überstehen: So ein Dorf ist nicht von heut auf morgen leer zu ziehn, zumal es dank der Wohnungsknappheit noch nicht möglich war, die Bewohner - und sei‘s nur „zwischendurch“ - woanders unterzubringen.

Zwar fielen immer wieder Höfe wüst, doch die boten mit ihren leeren Wohnungen Frei-Räume für Frei-Geister, die danach suchten. Damals wurden keine Häuser „besetzt“. Jedes Aufsehen hätte sofort die Staatsmacht geweckt. Wer es wagte, zog ein, wo frei war. Nach wenigen Monaten schon war quasi aus dem Nichts ein gewohnheitsmäßiges „Bleiberecht“ entstanden, das manchmal sogar „offiziell“ anerkannt wurde.

Ein im Stadtbild bekannter Wanderhandwerker und Puppenspieler hat auf diese Weise alle frei werdenden Höfe auf dem Anger kennengelernt und manche sogar „aufgewohnt“. Denn investiert wurde nicht mehr. Und wenn auch für die Furchtlosen nichts mehr ging, ging gar nichts mehr. Selbst noch mit Frau und Kind ist jener von Unterkunft zu Unterkunft gehuscht. Einmal war nachts ein Waschmaschinenschlauch geborsten. Stundenlang war Wasser, das nachts ordentlichen Druck hatte, aber tagsüber gerade im Sommer nur mäßig tröpfelte, in den Fußboden gelaufen und hatte das Fundament des Schornsteins unterspült. Der war dann ins unter grausigem Knirschen und Knarren Rutschen geraten und hing am Morgen schief und schräg überm Dache. Da mußte selbst ein erbitterter Gegner baupolizeilicher Weisungen der besseren Einsicht weichen.

Drauf ist die Familie in einen Hof gezogen, den sie mit einem Hühnerhalter teilen durfte: Hühner überall. Allmal im Frühling, wird erzählt, gefiel es dem Züchter, die auszubrütenden Eier mit Pigmenten zu impfen. Später sollen knallbunte Küken den Hof bevölkert haben.

Eines Tages aber, im Laufe der Zeit, wären alle Freiräume aufgebraucht gewesen. Der Leerzug freilich ist nie angekommen.

Bis zuletzt hatte es an Geld gefehlt und an Konsequenz. Und schon lange bevor neue „Verhältnisse“ auch das Wort „Fortschritt“ neu definierten, lagen Reißbretter voller Pläne zur Erhaltung des Angers.

Gleich nach 1990 hieß das neue Zauberwort: Sanierung. Die Stadt bekannte sich zum „dörflichen Charakter“ ihrer Ursprünge. Die Sanierung hat letztlich die Freiräume auch beseitigt. Manchem Freigeist wurde der Lebens-Raum genommen – gar nicht so sehr durch die neue grell-bunte Farbe der neuen Welt, als durch die mit ihr einhergehende scheinbare Sterilität. Doch auch die derart „Vertriebenen“ sind dankbar, daß es nicht die Abrißbirne war, der sie zu weichen hatten, denn auch neue Farben unterliegen der Alterung, und schon jetzt liegt über‘m Orte wieder der sanfte Adel einer Gebrauchspatina ...

Dieses Buch ist ein Glücksfall. Literatur vom Feinsten. Wo andere Autoren mit Jahreszahlen rasseln, werden hier Menschen mit ihren Geschichten lebendig gemacht: der Schiffswirt, die Architektin, der Pferdebauer. Leuchtende Farben bekommt die Historie. (Sächsische Zeitung)

Werner Böhme

Volle Kannen für den Pfarrer

Kurfürst Johann Georg I. war ein Freund der Jagd und des guten, beziehungsweise teilweise auch des übermäßigen Essens und Trinkens. Letzteres bestätigten in eindrucksvoller Weise seine Körperfülle, die geröteten Wangen und die farbfunkelnde Nase auch auf zeitgenössischen Gemälden. Vor mehr als 350 Jahren ließ er das Lust- und Berghaus Hoflößnitz errichten, war er doch in der Lößnitz seinen Jagdgefilden und Weinbergen näher. Die Bilder zeigen ihn aber auch in der majestätischen Pose des Landesvaters, und wohl zu Recht, denn er war es, der 1645 nach den verheerenden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges den Waffenstillstand von Kötzschenbroda mit den Schweden aushandelte. Wie nahe menschliche Größe und kleine Schwächen auch bei Johann Georg beisammen lagen, zeigt anschaulich folgende Legende, die von ihm erzählt wird.

Die Gemahlin mißbilligte des Kurfürsten übermäßigen Weingenuß. Als aber wiederholte Mahnungen ihrerseits nicht fruchteten, bat sie inständig den Kötzschenbrodaer Pfarrer, doch einmal von Amts wegen etwas dagegen zu unternehmen. Nach langem Zögern willigte der Pfarrer schweren Herzens ein. Für seine nächste Sonntagspredigt wählte er die Themen Trunksucht und Schwelgerei. Anschaulich schilderte er solch verwerfliches Tun und die traurigen Folgen desselben. Mit keinem Wort erwähnte er dabei den Kurfürsten. Nur zum Schluß seiner Predigt sagte er: „Unser gnädigster Herr trinkt zwar auch, aber er hat es dazu, und es bekömmt ihm. Amen!“

Der Pastor bekam an diesem Sonntag eine Einladung zur kurfürstlichen Tafel. Fast bereute er schon seinen Kanzelspruch, doch niemand berührte vorerst das heikle Thema der Sonntagspredigt.

Erst nach dem Mahl sagte der Kurfürst: „Herr Pastor, heute hat er mir auch eins auf den Pelz gebrannt!“

Der Pfarrer aber, der sich wieder gefaßt hatte, erwiderte: „Ei, das sollte mir leid tun, wenn es nur den Pelz getroffen hätte und nicht das Herz.“

Aufgrund dieser ungewohnten Offenheit bemerkte daraufhin der Kurfürst: „Wären doch alle in meinem Land von dieser Ehrlichkeit. Bitte er sich eine Gnade von mir aus!“

Der Pastor zögerte aus verständlichen Gründen.

So entschied der Kurfürst: „Ihr, Herr Pastor und eure Dienstnachfolger werdet fortan in jedem Jahr 49 ¾ Kannen Wein als Stiftung aus unserer kurfürstlichen Kellerei erhalten.“

Der Pfarrer war verlegen und wußte nicht, was er sagen sollte, so fügte der Kurfürst mit einem Augenzwinkern hinzu: „Denn 50 Kannen wären auch für euch zu viel!“

Heute gibt es natürlich eine solche Stiftung nicht mehr, ebenso wie wir keine Kurfürsten und Könige mehr haben. Leider, sagt der Kötzschenbrodaer Pfarrer, und denkt dabei vielleicht nicht nur an Kurfürsten und Könige.