Der Löwe ohne Zunge

Auf dem Stammtisch in der Weinschenke Vincenz Richter lag eine Kanonenkugel. Wer die schwere Kugel mit nur zwei Fingern hochheben konnte, auf den wartete ein besonderer Preis: Er durfte dem jüngsten Mädchen im Raum einen Schoppen spendieren. Kredenzt wurde der Wein in einem Glas mit Spieluhr, die, wie konnte es anders sein, ein Weinlied spielte. Stimmung und Musik in fröhlicher Runde, davon hielt Vincenz Richter sehr viel. Und in vorgerückter Stunde holte er dann wohl auch die Trompete vom Haken, und einer der Gäste blies auf Wunsch des Hausherrn „Am Brunnen vor dem Tore“. Und ab „da steht ein Lindenbaum“ summte oder sang er dann meistens mit. Vincenz Anton Richter war Gastwirt, Weinbauer, Küfer und Kellermeister sowie Sammler aus Leidenschaft – für Meißen eine geradezu legendäre Persönlichkeit.

Manchmal war Asche-Karl entgegen seinen guten Vorsätzen und seinem Versprechen, seiner Schwester ein Stück Sonntagskuchen mitzubringen, länger in der Weinschänke geblieben und einige Male sogar bis in die Nacht hinein, so hatte er auch den alten Vincenz näher kennengelernt. Daraufhin besuchte er ihn auch einmal in seinem Weinberg auf der rechtselbischen Seite außerhalb von Meißen.

Es war an einem Sonntag im August. Asche-Karl hatte einen Umweg gewählt und genoss den schönen Tag. Auf einem Feldweg fuhr er an der Elbe entlang. Auf des Stromes Spiegel zerfloss das Zerrbild von Himmel und Ufer. Die Höhen zur Rechten hatten kleine Rebparzellen geschultert. Dort am Kapitelberg war der Weinberg von Vincenz Richter. Die beiden sprachen an diesem Sonntag über vieles und schauten sich manches an. Als Karl den steinernen Löwenkopf über dem Eingang sah, fragte er: „Warum hat der Löwe eigentlich keine Zunge?“

Ausweichend bemerkte der alte Vincenz: „Der Löwe hat keine Zunge, damit er nicht allen erzählen kann, wie er hierher gekommen ist.“

Bei einem Gläschen Wein offenbarte er Karl dann aber doch die Geschichte: „Ich bin immer auf der Suche nach Raritäten und Antiquitäten. Dinge die andere wegwerfen, die sammle ich. Eines Tages war ich auf der Hauptstraße durch das zerbombte Dresden unterwegs. In der Nähe des Goldenen Reiters, der ebenfalls stark beschädigt war, fand ich einen der Löwenköpfe, die ursprünglich den Fundamentsockel zierten. Mich störte nicht, dass an dem Kopf die Zunge fehlte. ,Was ist damit?’, fragte ich den Brigadier. ,Das ist Bruch’, erklärte er mürrisch. Als ich aber fragte: ,Kann ich das Bruchstück mitnehmen?’, wurde der Brigadier hellwach: ,Das geht nicht, das gehört zum Denkmal!’ Schließlich fanden wir aber doch eine gemeinsame Lösung. Dass dabei ein kurfürstlicher Löwe gegen zwei Flaschen Wein aus Privatbesitz getauscht wurden, empfand der Brigadier aber wohl letztendlich doch als einen Makel, denn er rief mir noch hinterher: ,Musst es aber keinen auf die Nase binden, wo du den Kopf her hast!’ Jahre später fragte ich beim Denkmalschutz nach. Erst danach habe ich den Löwenkopf hier über dem Eingangsportal einbauen lassen.“

Direkt auf die Nase hat Vincenz Richter die Herkunft des Löwenkopfes nicht jeden gebunden, aber wer ihn später danach fragte, dem hat er es schon erzählt. Zudem hat er ihn auch werbewirksam für die Etikettengestaltung genutzt.

Karl war schon immer ein Schlitzohr gewesen. Während der Schulzeit in Ungarn gehörte er zu den Kleinsten in der Klasse. Wenn du klein bist, musst du schlau sein, hatte er sich wohl gedacht, jedenfalls steckte er die meisten der Größeren in die Tasche. Dass Schlauheit und Schlagfertigkeit im Leben entscheidend sind, hatte er schon früh erkannt. 

„Du  gingst noch nicht in die Schule und konntest kaum reden, da hast du schon immer von dir behauptet ,schlau war bin immer’, wusste seine Schwester zu berichten. („èn ravasz van mindig“ klang damals auf ungarisch noch viel gediegener) Karl war aber nicht nur ein Schlitzohr, sondern manchmal auch ein rechter Leichtfuß. Schon seine Mutter hatte immer zu ihm gesagt: „Junge, du hast einen leichten Sinn wie die Gagen.“

Karl trug sein Herz auf der Zunge, und das hatte ihn schon manchmal geschadet. Karl war zwar seinen Kinderschuhen längst entwachsen, aber zu einem Streich war er noch immer bereit. Aber es gab da eine Geschichte, die behielt er für sich. Er hatte dabei wohl an den Spruch seiner Mutter und an den Löwen ohne Zunge gedacht. Nur mit Hannes wettete er um eine Flasche Wein, dass die Dorfstraße bald einen neuen Belag bekommen würde.

Holprig und von der Zeit vergessen führte die Dorfstraße durch Überelbisch, daran hatte sich auch in den Jahren nichts geändert. Nur die Schlaglöcher waren groß und größer geworden und ein stetes Ärgernis für die Dorfbewohner. Auch für die Durchreisenden und Besucher war das wahrlich kein Aushängeschild im positiven Sinn. Zwar wurden die Schlaglöcher nach jedem Winter wieder notdürftig geflickt. Manchmal war aber auch das schon versäumt worden. So hatte sich auch in dem Jahr, in dem Karl besagte Wette mit Hannes abschloss, bis in den September hinein noch nichts getan. Alle Beschwerden hatten nichts geholfen. Völlig überraschend bekam die Straße dann aber doch eine neue Asphaltdecke. Und das kam so.

Bereits am Vorabend des Tages der Republik war Überelbisch mit Fahnen und Losungen geschmückt. Am Morgen des Staatsfeiertages fand man aber noch ein paar sehr außergewöhnliche Schmuckelelemente. Jemand hatte in der Nacht in die großen Schlaglöcher vor dem Gemeindeamt Alpenveilchen gepflanzt. So wie in den frühen Morgenstunden das Milchauto, fuhren auch alle folgenden Autos um die Blumeninseln herum. Ein Witzbold hielt sogar an und fotografierte den ganzen Spaß. Seit dem Mühlenplakat hatte man in Überelbisch nicht mehr so gelacht. Blumenfotos mit den Alpenveilchen machten bald im Ort die Runde. Eine Woche später erhielt die Dorfstraße einen neuen Belag und Karl eine Flasche Wein, denn Spielschulden sind Ehrenschulden.

Werner Böhme

Volle Kannen für den Pfarrer

Kurfürst Johann Georg I. war ein Freund der Jagd und des guten, beziehungsweise teilweise auch des übermäßigen Essens und Trinkens. Letzteres bestätigten in eindrucksvoller Weise seine Körperfülle, die geröteten Wangen und die farbfunkelnde Nase auch auf zeitgenössischen Gemälden. Vor mehr als 350 Jahren ließ er das Lust- und Berghaus Hoflößnitz errichten, war er doch in der Lößnitz seinen Jagdgefilden und Weinbergen näher. Die Bilder zeigen ihn aber auch in der majestätischen Pose des Landesvaters, und wohl zu Recht, denn er war es, der 1645 nach den verheerenden Zeiten des Dreißigjährigen Krieges den Waffenstillstand von Kötzschenbroda mit den Schweden aushandelte. Wie nahe menschliche Größe und kleine Schwächen auch bei Johann Georg beisammen lagen, zeigt anschaulich folgende Legende, die von ihm erzählt wird.

Die Gemahlin mißbilligte des Kurfürsten übermäßigen Weingenuß. Als aber wiederholte Mahnungen ihrerseits nicht fruchteten, bat sie inständig den Kötzschenbrodaer Pfarrer, doch einmal von Amts wegen etwas dagegen zu unternehmen. Nach langem Zögern willigte der Pfarrer schweren Herzens ein. Für seine nächste Sonntagspredigt wählte er die Themen Trunksucht und Schwelgerei. Anschaulich schilderte er solch verwerfliches Tun und die traurigen Folgen desselben. Mit keinem Wort erwähnte er dabei den Kurfürsten. Nur zum Schluß seiner Predigt sagte er: „Unser gnädigster Herr trinkt zwar auch, aber er hat es dazu, und es bekömmt ihm. Amen!“

Der Pastor bekam an diesem Sonntag eine Einladung zur kurfürstlichen Tafel. Fast bereute er schon seinen Kanzelspruch, doch niemand berührte vorerst das heikle Thema der Sonntagspredigt.

Erst nach dem Mahl sagte der Kurfürst: „Herr Pastor, heute hat er mir auch eins auf den Pelz gebrannt!“

Der Pfarrer aber, der sich wieder gefaßt hatte, erwiderte: „Ei, das sollte mir leid tun, wenn es nur den Pelz getroffen hätte und nicht das Herz.“

Aufgrund dieser ungewohnten Offenheit bemerkte daraufhin der Kurfürst: „Wären doch alle in meinem Land von dieser Ehrlichkeit. Bitte er sich eine Gnade von mir aus!“

Der Pastor zögerte aus verständlichen Gründen.

So entschied der Kurfürst: „Ihr, Herr Pastor und eure Dienstnachfolger werdet fortan in jedem Jahr 49 ¾ Kannen Wein als Stiftung aus unserer kurfürstlichen Kellerei erhalten.“

Der Pfarrer war verlegen und wußte nicht, was er sagen sollte, so fügte der Kurfürst mit einem Augenzwinkern hinzu: „Denn 50 Kannen wären auch für euch zu viel!“

Heute gibt es natürlich eine solche Stiftung nicht mehr, ebenso wie wir keine Kurfürsten und Könige mehr haben. Leider, sagt der Kötzschenbrodaer Pfarrer, und denkt dabei vielleicht nicht nur an Kurfürsten und Könige.