Goethes Tasso und das
Kofferradio
Im Laufe meines beruflichen
Lebens bin ich einige Male im direkten Sinne des Wortes aus der Rolle gefallen,
habe die unsichtbare vierte Wand zwischen Bühne und Zuschauerraum durchstoßen
und mich empört verbal aufs Publikum gestürzt. Mal grob, mal fein, so oder so
artikuliert.
Will sagen: meine erste
Publikumsbeschimpfung brachte mir einen Verweis der Direktion ein, die zweite
wurde schon verziehen, die folgenden gelobt und, als ich deutlich gestiegen
war, sogar zitiert - wunderbar, nicht?
Kurzum, wir gastierten in
Jena mit Goethes „Tasso”. Ich war damals 28 Jahre alt, spielte den Antonio und
kletterte schon auf der Erfolgsleiter nach oben. Als ich wartend beim
Feuerwehrmann in der „Nullgasse” stand, hörte ich, daß es im Parkett bedeutend
lauter als auf der Bühne zuging. Die jugendlichen Besucher unterhielten sich
friedlich, lachten, ließen sich durch das Geschehen auf der Bühne durchaus
nicht stören; einer hatte sogar sein Kofferradio angestellt. Fröhliche
Schlagermusik empfing mich, als ich die Bühne betrat. Nun hatte ich ja schon
Erfahrungen mit Ansprachen und Anbrüllern, das heißt, mein cholerisches
Temperament setzte zum Sprung an. Der arme kleine Tasso starrte fassungslos
nach unten. Ich rief ihm zu: „Moment, warte mal!” und begab mich vibrierend zur
Rampe. Dann hob ich die Stimme, da viele Zuschauer diese Aktion gar nicht
wahrgenommen hatten: „Mach sofort das Radio aus, sonst komme ich runter und
schmeiß’ dich eigenhändig aus dem Saal! Und wenn ihr nicht alle die Klappe
haltet ..." Was dann geschehen würde, wußte ich selbst nicht genau, setzte nur
prononciert hinzu: „Es handelt sich hier um ein Stück von Goethe!”
War es die Drohung mit dem
Dichterfürsten? War es mein Zorn, der durch alle Knopflöcher nach unten
ausstrahlte - ich weiß es nicht! Jedenfalls schwieg das Radio, kein Lachen,
Spannung, Totenstille. Auf leisen Sohlen kam der Intendant, der den „Tasso”
inszeniert hatte, auf die Bühne, legte seinen väterlichen Arm um meine
Schultern, lächelte mich mit „Danke, Wolfgang” an, wandte sich dann dem
Publikum zu mit „Meine Damen und Herren...” und sprach einige kultivierte
Sätze.
Goethe kam mir mit einer
Textstelle zu Hilfe, die ich am Ende des Aktes, den wir unterbrochen hatten,
mit Überzeugung ins Publikum schmetterte: „Beschränkt und unerfahren, hält sich
die Jugend für ein einzig auserwähltes Wesen und alles über alle sich erlaubt!”
Wenn das nichts ist! „1 : 0 für Tasso” schrieb eine Jenaer Zeitung im
Feuilleton.
Filmschnitt. 20 years
later.
Vor einigen Jahren stehe ich
mit einem Kollegen in einem Funkhaus am Mikrofon und mache ein Hörspiel. Nach
dem Beschnuppern entdecken wir unsere Sympathie füreinander. Er lädt mich
ein, mir doch einmal eine
Vorstellung im Berliner Ensemble, in der er die Hauptrolle spielt, anzusehen.
Hinterher sitzen wir in der Kantine. Nach dem dritten Bier, als klar ist, daß
mir die Vorstellung gefallen hat, schaut er mich plötzlich irgendwie schräg an: „Du, ich muß dir sagen, ich
hatte immer eine gewisse Hemmung dir gegenüber ...”
„So? Warum denn das?”
„Ich habe mal erlebt, wie
du das Publikum gemaßregelt hast.”
„Das habe ich ein paar Mal
gemacht; ich weiß jetzt nicht ...?”
„In Jena. Ich stamme
nämlich aus Jena.”
„Dann wars der Tasso.”
„Richtig. Die Sache mit dem
Radio.”
„Mein Gott. Da hast du also
dringesessen?”
„Hm. Noch schlimmer: der
mit dem Radio war ich.”
„......?”
Kein Kommentar. Oder nur
der: Zwei Mal im Leben hat uns das Radio miteinander verbunden.
Held in der Klemme
Die Großen des Reiches
hatten sich im Apollosaal der Staatsoper Unter den Linden versammelt, um ein
Festkonzert zu hören. Schergen - als Theaterbesucher verkleidet - bewachten die
Türen und unterstrichen so die „lockere, heitere Stimmung”. Das bunte Volk der
Gaukler drängte sich - unter leichter Beobachtung - in einem Nebengelaß hinter
dem Konzertpodium. Davor saßen verdienstvolle Männer auf kostbaren Stühlen. Der
erste Applaus galt nicht den Künstlern, sondern König Walter dem Spitzbärtigen,
der mit der Würde des Landesherrn den Raum betrat. Er ging zum Mittelstuhl der
ersten Reihe, setzte sich, der Festakt konnte beginnen.
Ein Männlein am Flügel
begleitete eine ganze Schar von Sängerinnen und Sängern, die ihr Bestes gaben -
oder das, was sie für ihr Bestes hielten. Der versierte Pianist hatte in
letzter Minute von jedem einen Klavierauszug bekommen und kannte nur die
Reihenfolge der Auftritte und die Seitenzahl in den Auszügen, aber er schaffte
seinen Part natürlich sozusagen „spielend”.
Der Bassist, von dem ich
erzähle, kam als letzter in der Veranstaltung dran. Er hatte sich die Arie des
Osmin ausgesucht, mit der er obendrüber auf der Bühne der Staatsoper
brillierte. Die Anmut der Musik Mozarts verband sich mit der Anmut des Raumes.
Allerdings hatte unser
Freund nur an die Musik gedacht und nicht an das, was er sang. „Ach, wie werd’
ich triumphieren, wenn wir euch die Hälse schnüren...” usw. usw. Auge in Auge
mit Walter Ulbricht begriff er erst jetzt, was da eigentlich neben den Noten
geschrieben steht. Schweiß lief ihm in die Augen und sein Hemd begann am Rücken
zu kleben. Aber er mußte ja weitermachen. Bis zum Ende. Ob es ein bitteres
würde, war eben die Frage. Seine Gedanken irrten ab und das Tremolo in seiner
Stimme lief auf einer anderen Frequenz.
Nach dem letzten Ton kam
nicht die Pause der Ergriffenheit, sondern ein Loch. Keiner im Raum wagte zu
klatschen. „Der Klassenfeind ist immer wachsam”, lautete die Parole - das
Publikum glich einer Versammlung von Hasen, die erstarrt mit langen Löffeln in
winterlicher Kälte sitzen.
Alles konzentrierte sich
auf den Landesherrn. Nach einer kurzen unerträglichen Pause klatschte der in
die Hände. Nun tauten auch die Genossen Hasen auf und spendeten einen
vorsichtigen mageren Applaus.
König Walter der
Spitzbärtige stand auf, winkte den verstörten Sänger zu sich heran, klopfte ihm
jovial mit dem Handrücken gegen die Heldenbrust und sagte lachend mit seiner
unverwechselbaren belegten sächsischen Sopranstimme: „Nu Genosse, heute hast
du’s uns ja ganz schön gegeben, ja?”