

Cornelia Klauß: Unerkannt durch Freundesland – Vorwort
Über kein Land wurde in der DDR so viel geredet, wie über die „große Ruhmreiche“. Die Sowjetunion war täglicher Unterrichtsstoff, Vorbild und Bruder in einem. Als Kinder banden wir das rote Halstuch um, absolvierten den ungeliebten Russischunterricht und lernten die Worte Lenins auswendig. Was wir von der Sowjetunion kannten, speiste sich vorwiegend aus Parolen, Phrasen und Propaganda. Es waren die immer selben Bilder, die eruntergebetet wurden: Die heldenhafte Sowjetarmee, die Brot verteilt und Kasatschok tanzt, Erntemaschinen, auf denen optimistisch lachende Traktoristinnen thronen, oder martialische Militärparaden auf dem Roten Platz. „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“, so lautete eine zentrale Formel, nur noch übertroffen von Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes!“
Die Wirklichkeit war komplizierter. Das ahnten wir. Die Selbstinszenierung der Sowjetunion als Künderin des Kommunismus funktionierte vor allem durch den Mangel an realistischen Gegenbildern. Ausschließlich staatlich zensierte Informationen durften das Nadelöhr passieren. Nur in Spielfilmen blitzten manchmal ein paar Realitätsfetzen auf. Der Film „Stalker“, diese düstere Elegie von Andrej Tarkowski, galt vielen als eine Art Offenbarung. Jedoch grundsätzlich galt: an dem Denkmal durfte nicht gerüttelt werden. Durch die penetrante und permanente Einforderung der Liebe zum Bruderland war der Blick nach Osten vielen vergällt, zumal es einen Anspruch auf eigene Erfahrungen nicht gab. Wenn heutzutage über Reisebeschränkungen für DDR-Bürger räsoniert wird, sind stets die Restriktionen Richtung Westen gemeint. Dass es ebenso verboten war, die Sowjetunion auf eigene Faust zu erkunden, ist kaum bekannt. In die UdSSR durfte nur fahren, wer sich einer offiziellen Reisegruppe anschloss oder eine private Einladung vorweisen konnte, die dann überprüft und gegebenenfalls genehmigt wurde. Das hieß allerdings für den Reisenden, dass er sich nur in dem genehmigten Ort und in einem gewissen Umkreis aufhalten durfte. Private Autoreisen waren schon auch möglich, aber nur auf vorgeschriebenen Routen. Ein Verlassen der Wegstrecke oder schon eine verspätete Ankunft im Hotel, wo man sich zu melden hatte, zogen sofort die Aufmerksamkeit des KGB und der Miliz auf sich, die umgehend Suchtrupps losschickten.
Es gab weit ausgedehnte Grenzregionen und unzählige gesperrte Städte, so genannte „Sakruitui Gorodui“, die für Ausländer tabu waren. Jegliche Mobilität stand in der Sowjetunion unter strenger staatlicher Kontrolle. Wer in diesem System als Individualtourist unterwegs war, einfach so, mit dem Rucksack auf dem Rücken, womöglich ohne konkretes Ziel, begab sich automatisch in die Illegalität. Freiheit ist relativ, Unfreiheit auch. Das gilt auch für das Reisen. Wenn man also schon nicht in den Westen fahren durfte, so blieb nur der Osten. In den siebziger und achtziger Jahren war in der DDR eine Generation herangewachsen, die die Welt nur geteilt in eine sozialistische und eine nicht-sozialistische kennen gelernt hatte. Der Kalte Krieg als eine Art Dauerzustand. Dennoch hörten sie im Radio „Born to be wild“ und dachten nicht im Traum daran, das Leben zu verpassen, nur weil sie diesseits der Mauer groß geworden sind. Sie versuchten der politischen Gängelung, die alle Bereiche des Lebens besetzte, etwas entgegenzuhalten. Die einen wurden Punks, andere schnitten sich die Pulsadern auf. Aber es gab eben auch jene, die sich dem Anpassungsdruck widersetzten, indem sie das System mit den eigenen Waffen schlugen. Wenn schon ständig von der deutschsowjetischen Freundschaft die Rede war, dann konnte doch nichts falsch daran sein, diese auch individuell zu erfahren? Neben dem Reiz des Verbotenen bildeten vor allem die Ahnung von der unermesslichen Weite des Landes, sowie die Verheißung fremder Kulturen ein Magnetfeld, das Neugierde geradezu herausforderte.
Das Riesenreich, das alle Klimazonen vom Subtropischen bis zur Subarktis umfasste, weckte Phantasie und Abenteuerlust auf vielfältige Weise. Besonders Bergsteiger, denen die Tatra oder die Karpaten längst zu eng geworden waren, suchten sich neue Herausforderungen in den Bergen der Sowjetunion. Wenn es dort bis zu 7.000 Meter hohe Gipfel zu erklimmen gab, mussten auch Wege dahin führen. Jedes noch so engmaschige Gesetzeswerk enthält ein Schlupfloch. Als die ČSSR 1968 von sowjetischen Panzern überrollt wurde, um die Träume vom Prager Frühling zu zerschlagen, hatte man für DDR-Touristen eine Ausweichstrecke eingerichtet. Damit sie weiterhin nach Ungarn, Rumänien und Bulgarien fahren konnten, wurde die Möglichkeit eines Transitvisums via Polen durch die Sowjetunion eröffnet, die einzig und allein zur Durchreise berechtigte, mit einer Gültigkeit von drei Tagen. Es geriet offenbar schnell in Vergessenheit, als die ČSSR wieder auf Linie gebracht worden war. In den Siebzigerjahren kamen einige Verwegene auf die Idee, sich die so genannte Reiseanlage (Pässe waren ein Privileg!) genauer anzusehen und jenen Passus „via UdSSR“ für die eigenen Zwecke auszuprobieren. Während zunächst das Transitvisum von den Polizeiorganen noch weitestgehend unhinterfragt und großzügig ausgegeben wurde, sprach sich im Laufe der Zeit auch bis zu den Behörden herum, dass es zuweilen zu einer individuellen Auslegung der Gesetzmäßigkeiten kam. Das durfte natürlich nicht sein. Aber anstatt die Regelung gänzlich außer Kraft zu setzen, wurde auf vielen Meldestellen lediglich die Erteilung verweigert. In diesem Falle half nur noch, sich polizeilich zum Beispiel in eine Kleinstadt umzumelden, um die Unbedarftheit der dortigen Behörde auszunutzen. Denn offenbar gab es zur Handhabung des Transitvisums keine generelle Anweisung „von oben“. War diese erste Hürde genommen, galt es die Reise gut zu tarnen. Wie viele Rubel konnte man glaubwürdigerweise mitnehmen, für drei Tage Aufenthalt, sollten sie doch für mehrere Wochen reichen? Verfängliche Bücher und Landkarten konnten verräterisch sein. Hochgebirgsausrüstungen waren tendenziell suspekt. Ein Damoklesschwert hing bedrohlich über den Unterfangen. Jederzeit konnte ein misstrauischer Staatsdiener, ob an der Grenze, an einer der zahllosen GAI-Stationen, die der angeblichen Verkehrsüberwachung dienten, in Wahrheit aber beinahe jedes Auto ins Visier nahmen, oder einfach ein getreuer Denunziant das vorzeitige Ende der Reise herbeiführen. Ein paar besonders Gewiefte haben sich selber eine Art Legitimierungsschreiben verfasst, das sie als Mitglied einer offiziellen Reise- oder Sportgruppe auswies. Es wurde mit vielen Stempeln versehen – Hauptsache es sieht „höchstamtlich“ aus. Dafür waren die sowjetischen Behörden außerordentlich empfänglich und übersahen dabei zuweilen den Widerspruch zum untauglichen Visum.
Was mit ein paar Wagemutigen begann, entwickelte sich per Mundpropaganda zu einer Art Bewegung, die sich mal einfach „Transit“ und mal „Unerkannt durch Freundesland“ nannte, kurz gesagt UdF. Es entbrannte ein wahrer Wettlauf um die riskantesten Reisen. Wer erklomm den höchsten Berg? Wer schaffte es durch die unwirtlichste Landschaft? Wer schlug den Behörden das spektakulärste Schnippchen? Ob per Zug, Flugzeug oder Autostop unterwegs, alles wurde zum Abenteuer. Immer war man auf die Hilfe der Einheimischen angewiesen und oft empfing den erschöpften Reisenden eine großartige Gastfreundschaft, die viele Entbehrungen wettmachte. Jeder Kauf einer Fahrkarte wurde zur Herausforderung, weil gültige Papiere verlangt wurden, weil die Verkaufspolitik der raren Billetts völlig undurchsichtig blieb, oder einfach weil sich dem Fremden nicht erschloss, welcher Schalter wann und für wen zuständig war. Die Bürokratie schrieb ihr eigenes Regelwerk, die sich für einen Ortsunkundigen leicht in ein wahres Labyrinth verwandeln konnte. Wurde man aufgegriffen, kam es zu einem Verhör, wo der Vorwurf des Missbrauchs der Visumspflicht erhoben wurde, aber auch gerne mal der, der Spionage. Da war man nicht zimperlich. Zuweilen löste sich die Beklemmung mit einer Einladung auf einen Wodka aus. Die Gastfreundschaft stand mancherorts höher als die irdische Gesetzgebung. Meist wurde man jedoch einfach abgeschoben in den nächsten Rayon, raus aus dem Zuständigkeitsbereich des Beamten, damit dessen Feierabend nicht gefährdet wurde.
Die Sowjetunion stellte sich dem Reisenden als ein Riesenreich voller Widersprüche und Zerrissenheit dar, aber mitnichten das Abbild jener propagierten siegreichen Weltmacht, die im Kalten Krieg Front gegen die gesamte westliche Welt machte. Die Erosion des Systems war unübersehbar: Die einzelnen Teilrepubliken grenzten sich vom Moskauer Diktat ab, versuchten in Tradition und Sprache ihre nationalen Eigenheiten zu bewahren. Die Menschen wurzelten immer noch tief in der Religion, was kein Sozialismusversprechen ersetzen konnte. Infrastruktur und Wirtschaft waren weit mehr vom Chaos als vom Plan gekennzeichnet. Es gab einen Mangel, der bei Obst begann und bei Kinderkleidung längst nicht endete. Armut und Korruption waren an der Tagesordnung. Je weiter man sich gen Osten bewegte, desto fremder wurden die Gebräuche und Rituale. In Swanetien war der Gedanke an Blutrache längst nicht ausgerottet, in den islamisch geprägten Regionen konkurrierten die Strukturen der Stammesgesellschaft mit den Machtverhältnissen der Partei. Die Sowjetunion, das waren Lenin und Stalin, die aus der Revolution eine Diktatur meißelten, ein in seiner Macht erstarrter Breshnew, das vertuschte Desaster Tschernobyl und der geleugnete Krieg gegen Afghanistan. Die Sowjetunion, das waren aber auch die Gedichte Paul Celans, die Poesien Dschingis Aitmatows und Gorbatschow, der vorsichtig Glasnost und Perestroika auf den Weg brachte. Nach all den bestandenen Abenteuern erwartete den Reisenden an der Grenze die bedrohliche Schlusskadenz. Wie würden die Milizionäre auf den Missbrauch des Transitvisums reagieren, das ja eine offenkundige zeitliche Diskrepanz aufwies? Die meisten waren auf ihrer Reise schon längst mit den Autoritäten in Konflikt geraten. Was konnte nun schon noch passieren? Raus lassen sie uns immer, hieß der Hoffnungsgedanke. Für die meisten ging es glimpflich mit einer Geldstrafe ab, andere mussten mehrere Jahre des Reiseverbotes hinnehmen. Kaum zurückgekehrt begann die zweite Reise – diesmal im Kopf.
So kostbar wie diese Expeditionen waren und so lange, wie man von ihnen zehren wollte, begann nun die Phase der Dokumentation. Zu den Tagebuchaufzeichnungen gesellten sich zahllose Foto- und Diareihen, denen wiederum lange Nächte des Vortrags folgten. Und – nach der Reise war vor der Reise. Neue Planungen mit dem Finger auf der Landkarte ließen nicht lange auf sich warten. Wer so in die Ferne aufbrach, kam auch immer ein Stück näher zu sich selbst. Wer das Gefühl von Freiheit einmal gekostet hatte, ließ sich daheim nicht mehr so leicht etwas vormachen. Gerade wegen ihrer ganz eigenen Intensität stellen sich diese Fahrten noch heute für die meisten geradezu als Schlüsselerlebnisse heraus. Haben sie doch nicht nur erfahren, wie man doktrinären Staatswesen und Bürokraten ein Schnippchen schlagen kann, sondern vor allem, dass Grenzen, ob innere oder äußere, dazu da sind, überwunden zu werden.