12. Schreck am Schreckenstein (Auszug)
In Leitmeritz hat sich ganz still und leise ein neues Flüsschen
dazugesellt, die Eger (Ohré). Sie bringt Wasser aus dem Fichtelgebirge.
Herzlich willkommen! Gemeinsam steuern wir auf
Lobositz (Lovosice) zu. Der erste Eindruck hier ist: Chemiewerk.
Lobositz ist eine typische tschechische Industriestadt, deren
schöner Kern hinter dicken Kühltürmen und Schornsteinen
verborgen liegt. Die größte Fabrik im Ort heißt „Lovochemie“
und stellt vorwiegend chemische Düngemittel her. Unter dem
industriellen Eindruck könnte man fast vergessen, dass Lobositz
ein Ort mit bedeutender Geschichte ist.
Die zentrale Lage der Stadt, auf dem Weg von Dresden nach
Prag, wurde ihr oft zum Verhängnis. Mehrfach zogen die Kriege
durch sie hindurch und über sie hinweg: Im 17. Jahrhundert
litt Lobositz unter dem Chaos des Dreißigjährigen Krieges.
Dann ging es gegen Napoleon. Auch 1866 zog wieder Militär
durch die Stadt, auf dem Weg nach Königgrätz, wo man um die
deutsche Zukunft stritt. Die bekannteste Schlacht allerdings,
die den exponierten Ort an der Elbe in die Geschichtsbücher
brachte, war die sogenannte „Schlacht bei Lobositz“ am Anfang
des Siebenjährigen Krieges. Die Preußen unter Friedrich dem
Großen besiegten dabei die österreichischen Habsburger, die
ihren verbündeten sächsischen Truppen zu Hilfe eilen wollten.
Die Sachsen hatten sich in Struppen an der Elbe, also vor
ihrer eigenen Haustür, von den Preußen einkesseln lassen.
Orientierungslosigkeit und Missverständnisse schenkten den
zahlenmäßig unterlegenen Preußen damals den Sieg. Der
deutsche Dramatiker Peter Hacks nutzte den Stoff, um daraus
eine Theaterkomödie zu machen. Sein Stück „Die Schlacht
bei Lobositz“ versteht Hacks als „einen Teil der menschlichen
Bemühungen um Abschaffung des Krieges“.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass man sich in vergangenen
Zeiten gern zum Prügeln in Böhmen getroffen hat. Nun
gut, eine Gedenkminute für die erschlagenen Söldner von
Lobositz werde ich wohl nicht einlegen, dafür aber eine kleine
Paddelpause. Die Mittagssonne ist wieder unerträglich heiß.
Kurz bevor die Elbe einen satten Neunziggradschwenk nach
rechts macht, entdecke ich am linken Ufer die Einfahrt zu einem
kleinen Hafen. Wir befinden uns am südöstlichsten Zipfel des
Flusslaufes. Von nun an geht es unaufhaltsam nach Norden.
„Wollen wir den Durchbruch wagen?“ – tuscheln sich die
kleinen kurzen Wellen zu, schwappen nervös hin und her und
sammeln sich zum großen Sprung. „Genug Wasser eingesammelt
in Böhmen, mehr war nicht zu kriegen“, denkt sich die
halbstarke Elbe und verlässt ihren bisherigen Westkurs. Moldau,
Eger, Iser und Aupa - die verbündeten Wasser sind sich einig:
Hier ist die Welt für uns zu klein, hier bewegt man sich nur
im Kreis. Gemeinsam und mit aller Kraft wollen sie gegen das
Böhmische Mittelgebirge drücken, bis es an einer schwachen
Stelle nachgibt und den Weg nach draußen frei macht. „Raus
aus der Gefangenschaft, raus aus dem Böhmischen Becken“
heißt der Schlachtruf und er wird allmählich lauter. Ein kleiner
Provinzfluss und Anführer einer Bande von Nebenflüssen wächst
aus seinem Kinderzimmer heraus, er wird unternehmungslustig,
selbstbewusst und strotzt nur so vor Kraft. Die kleine
Elbe will endlich ernst genommen werden unter den großen
Strömen Europas. Ihr erklärtes Ziel ist es, selbst einmal ein
großer Strom zu werden. Keinesfalls wird sie sich einem anderen
Fluss unterordnen und sich in diesem verlieren, wie so
viele ihrer Brüder und Schwestern. Ihr Name soll einmal für
etwas Großes und Erhabenes stehen: Elbe.
Gepflegte Klubatmosphäre herrscht im Yachthafen Lobositz.
Ein paar dickbäuchige Männer mit schwitzenden Gesichtern
schleppen Steine über den Steg. Wie aufgezogen sind sie damit
beschäftigt, einen kleinen Hang zwischen Steganlage und
Vereinshaus zu befestigen. Beflissen, als müssten sie sich gegenseitig
bestätigen, was für fleißige Arbeiter sie sind, ackern
sie in der prallen Mittagshitze. Ihr Lohn besteht aus Bier, etwas
anderes gibt es nicht. Überall stehen Halblitergläser herum.
Hier wird vom Fass gezapft. Wenn ich jetzt bei dieser Hitze
Bier trinken würde, wäre ich total erledigt und könnte kein
Paddel mehr halten, da bin ich mir sicher. Die tschechischen
Arbeitskräfte sind da scheinbar aus anderem Schrot und Korn.
Meine freundliche Frage nach Eistee überfordert sie allerdings
gewaltig. Ich blicke nur in verständnislose Gesichter. Zum Glück
findet sich in der Nähe eine Kaufhalle. Da fällt mir wieder ein,
dass die Kühltasche seit kurzem komische Gerüche von sich
gibt, die allmählich aufdringlicher werden. Ich schätze, da ist
nicht mehr viel zu retten. Also decke ich mich noch mal richtig
ein. Bei Penny Lobositz. Ein kleiner Imbiss ist natürlich auch
drin und eine große Flasche Eistee, beides genieße ich unter
einem schattigen Baum, während die Tschechen in praller
Sonne weiter Steine durch den Yachtklub schleppen.
Der Wind hat zugenommen und eine beachtliche Welle steht
uns gegenan. Ich muss ganz schön knüppeln, um vorwärts
zu kommen. Das ist kräftezehrend. Aber ich bin guter Dinge.
Warum auch nicht? Heute ist Mittsommernacht! Auch wenn ab
und zu ein kräftiger Schauer über uns hinweg zieht, die Luft
ist warm. Eine Landschaft wie im Märchen. Im Vorschiff liegen
zwei große Plastiktüten mit leckerem Paddlerfutter. Was will die
Seele mehr? Genug Treibstoff für den Schiffsdussel - pardon,
Schiffsdiesel. Manchmal Diesel, manchmal Dussel! Heute wird
allerdings der Diesel gebraucht, denn es geht auf Aussig (Ústí
nad Labem) zu, wo die letzte tschechische Schleuse auf uns
wartet. Das heißt, ich hoffe, sie wartet. Schleusen sind immer
Terminsache. Wer zu spät kommt, den bestraft der Schleuser.
Meinen schweren Lastkahn werde ich aber mit Sicherheit
nicht um irgendwelche Betonhindernisse asten. Nach meinen
Informationen müsste die Schleuse Aussig bis 19 Uhr geöffnet
haben. Die Erfahrung zeigt aber, dass man sich auf derartige
Aussagen nicht unbedingt verlassen kann. Sollten wir es also
heute nicht mehr schaffen, müssen wir die Nacht über in Aussig
bleiben.
Es wird bergiger. Auf beiden Seiten des Flusses beginnt das
Ufer zu wachsen. Wie schlafende Trolle hocken einzelne Hügel
verstreut in der Landschaft, ganz von Büschen und Bäumen
bedeckt, manche wirken sanft und andere schroff. Sie spielen
das Spiel: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Schon sehr
lange sitzen sie am Fluss und spielen und keiner von ihnen will
verlieren. Sie hocken nur da und die Zeit vergeht.
Und was macht die Elbe? Sie neckt die hingeduckten Hügel,
sie umspült die Füße der Trolle und kitzelt an ihren Zehen. Keck
navigiert sie zwischen ihnen hindurch. Wie ein ausgefuchster
Seemann, der sein Schiff schlafwandlerisch durch die Klippen
steuert, leitet der junge Fluss seine Wasser durch das Gebirge,
zielsicher und selbstverständlich, als könne es nur diesen
einen Weg geben.
Nette kleine Dörfer huschen vorbei, rechts lockt die Einfahrt
zu einer Marina, links ein Campingplatz, Wassersportklubs mit
ihren Vereinshäusern, edle Privatgrundstücke mit modernen
Villen, kleine Yachthäfen, hier und da ein Schiffsanleger - eine
friedlich verträumte Flusslandschaft. Nur der Flusswanderer
muss kämpfen, Meter für Meter. Immer wenn es auf ein Wehr
zugeht, wird der Fluss vorher deutlich breiter und bleibt fast
stehen. Die Muskeln ackern wie blöd und die Gedanken gehen
derweil spazieren.
Ich denke an Ludwig Richter, den großen Romantiker und
Landschaftsmaler aus der Dresdner Friedrichstadt. Schon als
Kind hat mich sein Bild „Überfahrt am Schreckenstein“ sehr
beeindruckt. Ich erinnere mich an das kleine Boot, nicht viel
größer als mein Faltboot, das mit einer Gruppe Menschen die
Elbe bei Aussig überquert. Im Hintergrund erhebt sich der
Schreckenstein (Strékov) über dem Fluss. Ein spitzer Felsen
mit einer beeindruckenden Burg oben drauf. Die Szene ist in
romantisches Abendlicht getaucht. Durch Richters Bild wurde
der Schreckenstein an der Elbe so berühmt wie etwa das Matterhorn
in den Alpen. Viele Romantiker des 19. Jahrhunderts
zog es immer wieder an diese magische Stelle, unter ihnen
Theodor Körner und Caspar David Friedrich. Auch Richard
Wagner verbrachte im Sommer 1842 einige Tage auf dem
Schreckenstein. Die „phantastische Einsamkeit und Ruhe“, die
Wagner nach eigenen Berichten an der Elbe fand, inspirierten
ihn zu der Oper „Venusberg“, die er später in „Tannhäuser“
umbenannte. Noch immer gilt der Felsen als Wahrzeichen
Nordböhmens, aber die Romantik ist längst dahin. Direkt vor
dem Schreckenstein zerstört die letzte Schleuse auf böhmischer
Seite, ein Betonmonster von 1936, die einmalige Kulturlandschaft
und reißt mich jäh aus meiner romantischen Träumerei.
„Ein Fall für die UNESCO“, denke ich spontan. Aber die Liste
schützenswerter Weltkulturstätten gibt es erst seit 1972. Zu
spät für Schreckenstein. Der berühmte Felsen kann nur noch
als abschreckendes Beispiel dienen, als Warnung vor weiteren
drohenden Landschaftszerstörungen.
Seht auf Schreckenstein! Seht Euch diese Schande an!
Selbst auf dem schmalen Stück zwischen Felsen und Fluss
drängeln sich noch eine Straße und eine Eisenbahnlinie hindurch.
Wahrscheinlich haben sich die Verkehrsplaner gedacht:
„Wenn schon Kulturlandschaft zerstören, dann richtig.“ Es kann
natürlich auch sein, sie haben sich gar nichts gedacht, soll
gelegentlich auch vorkommen.
Seit Lobositz ist es im Elbtal deutlich lauter geworden. An
beiden Uferseiten führen Eisenbahnstrecken entlang. Wenn
ein Zug kommt, scheppert und dröhnt es im Tal wie in einer
Kesselschmiede.
Punkt 19 Uhr fahren wir in die riesige Schleusenkammer ein.
Glück gehabt. Vielleicht sind wir sogar die letzten „Kunden“ an
diesem Tag, denn wieder sind wir die einzigen im Betonschacht,
Elbling und ich. Feucht, kühl und dunkel ist es hier. Kein Ort, wo
man gern länger bleibt. Das Schleusentor hinter uns schließt
sich unter Knarren und Gluckern. Dann geht es siebeneinhalb
Meter in die Tiefe. Je weiter ich mit Elbling nach unten sinke,
umso mehr verschwindet die erhabene Burg aus meinem Blickfeld.
Vierhundert Jahre lang war die Burg Schreckenstein im
Besitz der Familie Lobkowicz, bis 1948. In der sozialistischen
Tschechoslowakei gehörte die Burg dann zum Staatsvermögen
und der Besitz nannte sich „Volkseigentum“. Aber auch die Burg
Schreckenstein wurde inzwischen den ehemaligen Eigentümern
zurückgegeben. Heute heißt der Burgherr William von Lobkowicz.
Von März bis Oktober kann die Burg gegen einen kleinen
Obolus von 50 Kronen besichtigt werden.
„Das war es dann wohl“, denke ich, als wir die Schleuse verlassen.
Vor uns liegen 650 Kilometer einer freien und weitgehend
unregulierten Flusslandschaft. Nur eine einzige Schleuse
trennt uns noch von der Nordsee: Geesthacht. Aber soweit sind
wir noch lange nicht.