Meine erste Autofahrt

Wenn mein Vater das Bedürfnis auf ein Bierchen verspürte, dann konnte er sich aus mindestens zehn Möglichkeiten im Umkreis von acht Kilometern für eine oder auch mehrere entscheiden. Die vom heimischen Herd am weitesten entfernten waren die kleine Kneipe „Stolles Bierstuben“ oder „Sigl´s Gaststätte“ in Bad Schandau. Etwas näher lagen das „Waldhäusel“ und das „Forsthaus“ oder von uns talaufwärts die Buschmühle und die Felsenmühle. Bergauf in Lichtenhain gab es noch zwei Möglichkeiten, nämlich das „Erbgericht“ und das „Deutsche Haus“ mit der Hummel Rosa als Wirtin. In kürzester Distanz und für kurzfristige Entschlüsse aber gab es mit einem Linksabbiegen am Tor plus 500 Metern den „Beuthenfall“, eine rustikale Kneipe für Waldarbeiter, Wanderer und Bergsteiger. Falls es etwas feiner werden sollte, dann musste am Tor nach rechts abgebogen und auch so um die 500 Meter gelaufen werden. Da erreichte man den „Lichtenhainer Wasserfall“, ein sehr beliebtes Ausflugsziel für Jung und Alt aus nah und fern. Eine gepflegte Gaststätte mit Hotelbetrieb und einem Biergarten, welche ihren Namen dem bekannten und viel fotografierten Wasserfall verdankte. Eine gute Adresse in allernächster Umgebung vom Elternhaus, wo Vater an schönen Sommersonntagen mit Mutter und mir zu Mittag oder zum Kaffee, Kuchen und Eis oder alles zusammen einkehrte. Wir saßen dann meistens im Biergarten und ließen die Sonne auf uns scheinen, so lange das eben im Tal möglich war.
Bei so einem Gaststättenbesuch probierte ich einen winzigen Schluck von Vaters Bier und war entsetzt, was die Großen an so einem bitteren Gesöff fanden und es mit immer währendem Genuss in sich hinein schütten und anschließend voller Wonne mit offenem Mund einen genießerischen Aushaucher hören lassen. Ich war jedenfalls in meinem Kindesalter mit meiner Limonade oder mit Apfelsaft sehr glücklich und zufrieden.

Mitten in den großen Ferien von 1950, es war ein wunderschöner warmer Sommerwochentag, ging mein Vater schon am frühen Nachmittag in den „Wasserfall“. Er hatte unerwartet Besuch von einem Kriegskameraden aus der Nähe von Neustadt bekommen. Natürlich setzte man sich zu so einem seltenen Wiedersehen in die Gaststätte. Die Erinnerungen an die vielen gemeinsamen Erlebnisse der Kriegs- und Gefangenschaftsjahre konnten nur mit einer Vielzahl von Bierchen und Schnäpsen bewältigt werden. Diese Kriegszeiten und besonders die Zeiten der Gefangenschaft waren harte Jahre, aber eine gute Kameradschaft ließen den Kummer ein wenig kleiner werden. Das schmiedet zusammen.
Die Zeit des gemeinsamen Erinnerns verging wie im Fluge und so kam es, dass der Kriegskamerad mit trübem Blick zur
Uhr feststellte, dass der letzte Bus, mit dem er von Lichtenhain nach Hause fahren konnte, bereits in einer halben Stunde abfuhr.
Mein Vater, ein Mann der Tat, kam relativ rasch nach Hause, um seinen kleinen BMW Dixi aus der Garage zu holen. Nun
muss ich von mir ehrlich sagen, ich war extrem autofahrgeil und hatte mit dieser penetranten Eigenschaft schon so manchen Kilometer mit meinem Vater im Auto hinter mich gebracht. Obwohl mein Vater schon einen leichten bis mittelschweren alkoholhaltigen Drehrumbum hatte und von meiner Mutter zum Glück nichts zu sehen war, setzte er sich ans Steuer und ich auf die hintere Sitzbank des speichenrädrigen Vehikels. Wir fuhren aus dem Hof auf die Straße, wo der ebenso schwankende Kamerad zustieg. Mein Vater gab Gas und lies die vier Zylinder des kleinen Motors tüchtig arbeiten. Es ging immer bergauf, den Fahrweg entlang des kleinen Dorfbaches, direkt nach Lichtenhain.
Mein Vater fuhr jedenfalls besser, als er in diesem Zustand gelaufen wäre. Von außen gesehen war bestimmt nichts auszusetzen.
Wir mussten durch das ganze Dorf fahren, um an die Bushaltestelle an der Umgehungsstraße zu gelangen. Der Kamerad hatte Glück, denn kaum hatte mein Vater den Motor abgestellt, kam auch schon der planmäßige Bus. Nach einer kurzen, aber herzlichen Verabschiedung erklomm der Besucher mit schweren Schritten den Bus und verschwand mit diesem.
Mein Vater sah sehr zufrieden aus und lehnte sich gemütlich in seinen Sitz. Er dachte bestimmt an sein Sofa zu Hause. Ich dachte aber an die Heimfahrt, denn es braute sich am Himmel ein ordentliches Gewitter zusammen. Ein bisschen Zeit, aber eben nicht mehr allzu viel, bis zum ersten Regentropfen verblieb mir noch, um meinen Vater zu wecken und ihn für die Heimfahrt flott zu machen. Er hörte nicht auf mich, im Gegenteil, er machte es sich so richtig bequem, genau so wie auf dem vermeintlichen Sofa. Ich sprang aus dem Fahrzeug und wollte wenigstens das Verdeck hoch- und zuklappen. Es gelang mir bei aller Anstrengung einfach nicht. Es war auch kein Mensch weit und breit zu sehen. Jetzt kam die Stunde der Entscheidung für mich.
An dieser Stelle muss ich unbedingt noch ein Geständnis machen. Immer, wenn meine Eltern nicht zu Hause waren, schlich ich in die Garage und setzte mich hinters Steuer des Autos. Cäsar wollte natürlich mitmachen und ich ließ ihn auf dem Beifahrersitz. Wir sahen uns an und ich wusste, dass er mich nicht verraten würde. Und wie eben so ein richtiger Junge dann im Geist und mit dem Mund den Motor laufen lässt und am Lenkrad herumdreht, so tat ich es auch. Das wird natürlich mit der Zeit etwas langweilig und ich ging auf ein höheres Level. Der Anlasser befand sich unten im Fußraum so ziemlich in der Mitte. Am Hebel ziehen und der Motor sprang wirklich an, genauso wie bei meinem Vater. Das Gasgeben war da schon ein ganz anderes Gefühl. Das Motorgeräusch musste ich nun auch nicht mehr selber machen.
Die Garagentür stand ganz weit offen und sprach mir Mut zu. Ich saß auf einmal so ganz unbewusst auf dem Sitz ziemlich weit vorn, so dass meine Füße die Pedalen berühren konnten. Mein Herz lief noch schneller als der Motor. Eigentlich konnte nicht viel schief gehen. Der allererste Rückwärtsgang in meinem Leben ging wie Butter rein. Das Kuppeln und Anfahren hatte ich mir schlimmer vorgestellt. Leute, ich kann euch sagen, das war ein Hochgefühl, ein Rausch. Das Auto rollte ruckelnd langsam auf den Hof hinaus. Die Bremse hielt das Auto und auch den Motor an. Ein Abwürger. Macht nichts, es hat ja keiner gesehen.
Ich war ein sehr glücklicher Junge. Motor an und zitternd ersten Gang rein. Auch das klappte ganz gut. Nun musste ich nur noch in die Garage hinein, nicht dahinter und so zum Stehen kommen, dass mein Vater das Auto an einem unverdächtigen Platz wiederfindet. Aus heutiger Sicht ganz einfach, aber damals eine harte Kinderarbeit voller Hitzewellen und Schweißausbrüche.
Übung macht den Meister. Meine Eltern ließen den kleinen Manfred zum Glück am Sonntag manchmal allein zu Hause. Meine Oma saß im Sessel und strickte an den kratzigen Schafwollsocken für den kommenden Winter. Opa war wie so oft mit seinen Kumpels zum Skat in den „Wasserfall“ gegangen. Sie nannten sich scherzhafterweise Freie Deutsche Jugend und hatten sich sogar eine entsprechende Tischfahne der FDJ besorgt. Erst nach einem tüchtigen Rüffel von „Oben“ ließen sie die Fahne weg.
Und Cäsar, der treue Hund passt ja schließlich auf mich auf. So fuhren wir beide viele Male die Kurzstrecke Garage – Hof und zurück. Zuletzt klappte es wie geschmiert. Wir waren Profis geworden. 

Zurück an die Bushaltestelle. Das Gewitter drohte mir mit immer stärker werdendem Grollen und gab mir den letzten Rest des Mutes, den ich noch brauchte für meine Tat. Mit ganzer Kraft und vielen Anfeuerungen meinerseits schob ich meinen Vater auf die Beifahrerseite. Ich setzte mich ans Steuer und auf den Sitz ganz vorn hin, gewissermaßen in die erste Reihe. Dank meiner vielen Übungsstunden war ich schon fast ruhig und gelassen beim Starten des Motors. Noch stand das Auto. Wäre jetzt jemand aufgetaucht, hätte ich das Vorhaben bestimmt abgebrochen.

 Aber es kam keiner. Alle hatten sich wegen des Wetters in ihre Häuser verkrochen. Die Gedanken in meinem Kopf erkämpften sich eine Meinung mit einem leichten Plus zur Fahrt.

Mein neunter Geburtstag war ein viertel Jahr her. Eigentlich ein zu frühes Alter. Wäre es der 10. oder 11. gewesen, dann hätte man das Plus deutlicher gespürt. Was soll`s! Den zweiten Gang wollte ich ja auch ausprobieren. Der Start klappte wie erwartet. Nun nahm ich mir vor, auf den zweiten Gang zu schalten, ohne das Lenken zu vergessen. Mit einem kleinen Schlenker, etwas Knurren im Getriebe und einen Hopser war auch diese Hürde genommen. Mein Plan war es, mit wenig Gas und im zweiten Gang bis nach Hause zu fahren. Vor mir lagen ein paar Kilometer bergab. Meine größte Sorge war die Entdeckung dieses Unternehmens durch einen Bewohner oder meinen Vater, welcher in völliger und glücklicher Abwesenheit seinen Rausch neben mir ausschlief. Er machte zu unserer Fahrt ebensolche Geräusche wie ich vorher bei den Trockenübungen mit dem Auto. Bestimmt träumte er jetzt von einer schönen ruhigen Autofahrt.

Da ich die Geschwindigkeit in sehr bescheidenen Grenzen hielt, konnte ich mich fast voll auf das Lenken konzentrieren.
Und das klappte wunderbar. Es war ja auch ein kleines Auto, so richtig für mich gemacht. Durch das ganze Dorf mussten
wir hindurch. Dass das Gefährt auch genau das machte, was ich wollte, beruhigte mich und gab mir ein ausreichendes Selbstvertrauen. Noch ein Bauernhof und ein kleines Haus auf der linken und ein letztes Mehrfamilienhaus auf der rechen Seite, wir hatten das Ende des Dorfes ohne Entdeckung erreicht. Es war wie ein erster schwer erkämpfter Sieg. Der Motor tuckerte mit wenig Gas dahin, nur manchmal überkam es mich und ich gab ein wenig mehr Gas. War das eine tolle Sache! Ich war ganz in Fahrerlaune. Am links liegenden Steinbruch vorbei und wir waren aus der von den letzten Häusern sichtbaren Zone heraus.
Wenn wir nicht nass werden wollten, sollte ich auf den wenigen geraden Teilen der Straße vielleicht doch noch in den dritten Gang schalten. Diesen verlockenden Gedanken habe ich aber erfolgreich unterdrückt. Diese Reise sollte schließlich positiv und zwar in der Garage enden. Der restliche Weg von Lichtenhain bis ins Kirnitzschtal war ab hier sehr abwechslungsreich, mit vielen Kurven und verschiedenen steilen Stücken. Alles mit 20 bis 30 Sachen hatte ich bis jetzt gemeistert. Es war uns kein unerwünschter Wanderer in die Quere gekommen.
Die Fahrt war nun bald zu Ende. Vor uns lagen noch eine enge Rechtskurve, dann ein langer mittelsteiler Berg, 100 Meter Kirnitzschtal, die Einfahrt in den Hof und rechts in die Garage.
Es wollte gerade anfangen zu regnen. Der Teufel will es, in der Rechtskurve kam uns ein Pferdegespann und noch auf unserer rechtmäßigen Seite entgegen. Es wurde eng. Ich war wie elektrisiert, musste schnell reagieren, man hatte mich entdeckt. Zum Glück hatte ich wenig auf dem Tacho. So versuchte ich mein Glück auf der linken Seite. Wir glitten gerade so ohne Berührung vorbei. Mein Vater hatte nichts bemerkt, aber der Bauer aus Lichtenhain umso mehr. Er wollte nicht glauben, was er da sah. Der kleine Retat als Kraftfahrer. Mir war, als hätte ich auch ein Entsetzen in den Augen der Pferde gesehen. Mir war schlecht. Die gute Stimmung der Fahrt wurde durch dieses Treffen stark gedämpft. Den Rest der Strecke fuhr ich nun sehr langsam und das war gut so, denn auf der Fahrbahn des Berges gab es nach rechts unten verlaufende Querrinnen. Diese Rinnen sollten bei starken Regen das Wasser von der Straße an die rechte Seite in eine Rinne ableiten. Beim Überfahren so einer Querrinne machte das Gefährt zwei Doppelhopser. Ich kam tatsächlich vor der
Hofeinfahrt an und bremste bis zum Stand. Es regnete nun schon stärker, das Gewitter passte zu meiner Stimmung. Ersten Gang einlegen, rein in den Hof und ganz vorsichtig mit regennassem Gesicht in die Garage. Als ich den Motor abstellte, war ich fix und fertig und trotzdem sehr zufrieden. Hatte ich doch eine Fahrt ohne Beanstandungen hingelegt.
Meinen Vater ließ ich im Auto zurück und ging ins Wohnhaus.
Wie sag ich`s meiner Mutter? Ich sagte nur, dass der Herr Papa noch im Auto sitzt, aber nicht auf welcher Seite. Das Gewitter draußen war in vollem Gange, es regnete wie aus Kannen, und es dauerte fast noch eine halbe Stunde bis die Sonne wieder schien.
Die Zutaten für mein persönliches Gewitter wurden erst zusammen gerührt. Mutter ging nun in die Garage, um nach Vater und dem Rechten zu sehen. Die beiden kamen nach einer Weile zurück.
Vater war noch nicht in der richtigen Lage und Stimmung die Sache vollständig zu begreifen. Sein Wille und Weg war nur noch das Klosett und das Sofa.
Nach einer knappen Stunde bekamen wir Besuch vom Dorfpolizisten. Er machte ein ernstes Gesicht und wollte aus irgendeinem wichtigen Grund unbedingt mit meinem Vater sprechen.
Der Hund, ich meine unseren Cäsar, wollte raus Gassi gehen und ich hatte aus einem Bauchgefühl heraus den gleichen Gedanken. Wir zogen los. Es war immer noch ein schöner Sommerwochentag, obwohl sich ein mittelschweres Gewitter der anderen Art über mir zusammenbraute.