EIN GLÜCKLICHER ZUFALL
Ich wurde 1938 in Dresden geboren. Ich bin Sachse, Deutscher.
Das ist nicht mein Verdienst. Meine Eltern waren Deutsche, sie
wohnten in Deutschland und sie waren „Arier“. Das mussten sie
nachweisen, das entschied in der Zeit meines Zur-Welt-Kommens
über die „Volkszugehörigkeit“ im „Großdeutschen Reich“.
Ich bin nicht stolz auf meine Nationalität. Zuviel Unrecht wurde
im Namen Deutschlands von Deutschen an den Nachbarnationen
verübt. Doch nehmen lassen, möchte ich mir mein Deutsch-Sein
auch nicht. Man hat es versucht. Die deutsche Geschichte wurde
ebenso geteilt, wie Deutschland geteilt wurde. Beide Seiten beanspruchten
die positiven Teile der Geschichte für sich allein.
Die Nachbarnationen sahen die Teilung Deutschlands positiv.
Der große Nachbar war auf ein erträgliches Maß zurechtgestutzt.
Dass dieser Nachbar nicht „zu Recht gestutzt“ wurde, stand außerhalb
der Debatte. Mit der Zeit wurde das zwiefache Deutschland
Normalität. Die eine Seite, sah die andere Seite nicht mehr als das
eigene, sondern als ein fremdes Land. Die Menschen fanden sich
damit ab. Die Teilung war vollzogen für alle Zeiten.
Eines Tages, bei einem Grenzübertritt von Polen zur Tschechoslowakei,
war ich kein Deutscher mehr, sondern ein „Enderaki“
geworden.
Damit war ich noch immer ein relativ privilegierter Vertreter der
Spezies Homo sapiens auf dieser Erde. Ich blieb Europäer. Von
meinem Eigentum büßte ich nichts ein. Meine Sprache blieb deutsch.
Mein Wohnsitz blieb Dresden, eine Stadt in der DDR, einem Teil
des ehemaligen Deutschland. Niemand vertrieb mich aus meiner
Heimat. Es hat schlimmere Schicksale gegeben – auch und gerade
in der jüngeren deutschen Geschichte. Man hatte mich nur national
deklassiert: zum „Enderaki“. Zum Einwohner der Německa Demokraticka
Republika. NDR – Enderaki! (NDR = slawophon für
DDR). Das war nach der von Marx entworfenen Definition einer
Nation falsch. Die Bevölkerung der DDR war keine eigenständige
Nation, ebenso wie die Bevölkerung Österreichs keine Nation ist,
sondern das Staatsvolk eines Staates deutscher Nation. Ich war
Deutscher und wollte es sein und bleiben, kein „Enderaki“.
Das Rad der Geschichte drehte sich weiter. Deutschland einte
sich, und ich war wieder Deutscher ohne jede Einschränkung.
Ich habe nun die Freiheit, Deutscher zu sein und ich sehe die
Anderen, die nicht das Glück einer so edlen Geburt haben. Die
Polen, die allesamt zu Dieben erklärt wurden. Die Rumänen, die
wie man hörte, in Banden stehlend durchs Land zogen. Die Tschechen,
Slowaken und Ungarn, die teilhaben wollten am Reichtum
der Welt des Westens. Es kamen noch andere: Pakistaner, Schwarze
und Zigeuner. Und im geeinten Land blieben „Altlasten“. Die
Türken im Westen und die „Fidschis“ im Osten. Menschen, die ins
Land gerufen worden waren, als billige und willige Arbeitskräfte,
die nun nicht mehr in Deutschland gebraucht wurden, die aber in
ihrer Heimat Heimatlose geworden waren und die dort erneut nur
Ausgrenzung erwarten würde.
Ich hatte die Menschen kennengelernt. Die gastfreien Polen, die
sangesfreudigen Tschechen, die sanftmütigen Rumänen, die fleißigen
Vietnamesen, den fröhlichen Afrikaner und auch die Zigeuner. Alle
waren Menschen wie ich. Sie hatten sich ihre Herkunft ebensowenig
aussuchen können wie ich. Ich hätte als Zigeuner geboren werden
können oder als Schwarzer. Ich weiß nicht, was ich getan hätte,
um zu überleben. Denn überleben, das hätte ich gewollt! Würde
ich Autos stehlen, oder den Kupferdraht von einer elektrifizierten
Bahnlinie, wäre ich Schwarzarbeiter in Hamburg oder Drogendealer
in Frankfurt?
Oder hätte ich die Reise in eine bessere Zukunft nicht überlebt?