Wendekarriere
Ich weiß, dass Lehrer eine große Verantwortung tragen,
wenn sie einen Schüler beurteilen. Diese Erfahrung
hatte ich am eigenen Leibe verspürt, als ich mich
um einen Studienplatz am Pädagogischen Institut in
Erfurt bewarb. In meinem Abiturzeugnis stand unter
„Gesellschaftlicher Beurteilung“: „Sie bringt ihre positive
Haltung zu unserem Staat nur sehr verhalten zum
Ausdruck.“
Weil ich kurz vor Studienbeginn noch keine Mitteilung
hatte, ob ich nun angenommen worden wäre,
trampte ich aus Geldmangel nach Erfurt, um mir die
Antwort persönlich zu holen.
Man erklärte mir, dass ich zurückgestellt worden
wäre. In meiner Naivität fragte ich: „Was heißt zurückgestellt?
Soll ich da nächstes Jahr wiederkommen?“
Man wies mich auf meine gesellschaftliche Beurteilung
hin, und nachdem ich einen plausiblen Grund dafür
genannt hatte, wurde ich gleich vor Ort doch noch
immatrikuliert.
Auf jeden Fall hatte mich dieses Erlebnis sensibilisiert
und mir die Tragweite einer Beurteilung bewusst
gemacht. Und so habe ich immer sehr sorgfältig abgewogen
und es nur einmal in meinen 44 Lehrerjahren
erlebt, dass Eltern einen Einspruch gegen die Beurteilung
ihres Sohnes erhoben hatten. Sie hatten gewünscht,
dass ihr Sohn auf die Erweiterte Oberschule
gehen und das Abitur ablegen soll.
Nun war es aber damals so, dass nicht jeder Zweite
diese Bildungsstufe erreichen konnte, sondern es wurden
die Lernergebnisse zugrunde gelegt. Der bewusste
Schüler hatte zwar z. B. in Staatsbürgerkunde eine
Eins, in den naturwissenschaftlichen Fächern hatte
er jedoch schlechte Ergebnisse. In seiner Beurteilung
versuchte ich die Ursachen zu formulieren, jedoch die
Eltern wollten eine andere Beurteilung.
Was tun? Die Fachlehrer waren noch im Hause
und bekamen die Beurteilung vorgelegt. Alle fanden
sie treffend, also sah ich auch keinen Grund, etwas zu
verändern.
Der nächste Weg des Vaters führte zum Kreisschulrat.
Der wiederum wies unseren Schuldirektor an, die
Beurteilung zu verändern. Meine Weigerung gab ich
angesichts der Übermacht auf und formulierte sie um,
indem ich Vorschläge machte, was der Schüler verändern
sollte. Aber auch diese Beurteilung, die ja die
Lernergebnisse nicht verbesserte, konnte dem Schüler
nicht zum Besuch der Erweiterten Oberschule verhelfen.
Dieser Vorfall ereignete sich in den frühen Siebzigern.
Lange hörte ich nichts mehr von diesem Schüler.
Nach der Wende, als der erste Sächsische Landtag
gewählt werden sollte und die Kandidaten sich um
Wähler bemühten, flatterte ein Handzettel in unseren
Briefkasten. Auf dem Foto war kein anderer als mein
damaliger Schüler zu sehen.
Er stellte sich als Mitglied der CDU vor: In der ersten
Zeile erfuhr man, wann und wo er geboren worden
war und auf der zweiten Zeile stand: „Mir wurde der
Besuch der Erweiterten Oberschule verweigert!“
Armes politisches DDR-Opfer!!