Auszug aus dem Kapitel 28:
Am frühen Nachmittag stieg ich in mein Auto und fuhr die Dorfstraße hinauf. Seit gut einem Jahr belegte ich Englisch an der Volkshochschule in Stattberge. Besonders nach Wills Besuchen bestaunte mein Lehrer meine sprachlichen Fortschritte. Souverän benutzte ich Idiome wie: „I will take a shower.“
„Das ist ganz ausgezeichnetes Englisch“, lobte er mich dann und sah mich bewundernd an. „Sie haben überhaupt die meisten Fortschritte in der Klasse gemacht, obwohl Sie viel später als die anderen angefangen haben.“
Dann errötete ich und fühlte mich ertappt wie ein Teenager nach dem ersten Rendezvous. Wenn der wüsste!
Mein Auto quietschte, als ich die Schlaglöcher umfuhr. Auf der Anhöhe von Radenau erkannte ich schon von weitem Ralfs dunkelblauen Lada. Mein Nachbar war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit. Wie wild betätigte ich meine Lichthupe. Als unsere
beiden Autos nebeneinander auf der schmalen Straße zum Halten kamen, kurbelte ich hastig mein Fenster herunter und blickte in Ralfs überraschtes Gesicht, der mich sofort in seiner übermütigen Art fragte: „He, Nachbarin, was ist denn passiert?“
„Die Stasi kommt heute Abend zu mir.“
„Was?“ Er runzelte die Stirn.
„Die Stasi hat sich für einen Besuch bei mir zu Hause angemeldet.“
„Wann?“
„Um 18.00 Uhr.“
„Weißt du schon, wie der Knabe heißt?“
„Nein, keine Ahnung. Ach Ralf, ich habe Angst.“
„Nein, nein, sei nur ganz ruhig. Nur antworten, wenn er etwas fragt. Weißt du was? Ich komme einfach mal heute Abend zu dir rüber. Ich sehe ja, wenn ein Auto vor deinem Haus steht.“
„Willst du das wirklich tun?“
„Ja, ich gucke mir den Kerl mal an. Mal sehen, ob ich den kenne. Diese Experten kommen oft zu mir in die Firma und wollen etwas repariert haben. Dann schnüffeln sie bei uns im Büro herum. Ich kenne mich aus mit denen. Kristina, mach dich nicht verrückt. Bis später dann.“ Er winkte mir zu und nickte aufmunternd mit dem Kopf, bevor er langsam anfuhr.
Ich winkte zurück und rang mir ein Lächeln ab.
In der Englischklasse war ich nicht bei der Sache. Meine Gedanken drehten sich im Kreis. Würde die Stasi mich bedrängen, Will nicht zu heiraten? Wie sollte ich dem begegnen?
Auf der Fahrt zurück fuhr ich viel zu schnell aus Sorge, dass der Stasimann schon eher gekommen sein könnte, um die Kinder auszufragen.
Aber mein Hof war leer. Hastig parkte ich den Wartburg
in der Garage, eilte die Treppe hinauf und begrüßte die Kinder.
Kurz danach klingelte es. Ein Mann, jünger als ich, in hellblauer Windjacke, stand vor meiner Wohnungstür. Ohne ihn nach seinem Namen oder dem Grund seines Besuches zu fragen, bat ich: „Kommen Sie bitte herein“, und führte ihn in mein Wohnzimmer, wo er auf der Couch neben der Tür Platz nahm.
Als ich ihn fragte: „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, traten Christopher und Sophie von der Küche ins Wohnzimmer.
Der Mann erschrak. „Keine Kinder“, rief er fordernd, blickte zu Boden, als bliebe er so unerkannt und fuhr leise fort: „Unser Gespräch muss absolut unter vier Augen stattfinden. Sorgen Sie dafür, dass wir nicht gestört werden!“ Der letzte Satz klang wie ein Befehl.
Sofort musste ich an Ralf und seine Ankündigung denken. Würde er wirklich herüberkommen? Was dann?
„Ihr Zwei“, wandte ich mich an die Kinder, „esst bitte euer Abendbrot in der Küche und geht dann in eure Zimmer, bis unser Besuch wieder gegangen ist.“ Die beiden sahen mich erstaunt an, verschwanden aber sogleich hinter der Küchentür. Dort hörte ich sie sich gegenseitig necken und mit dem Geschirr hantieren.
Ich setzte mich dem Mann gegenüber in den Sessel. Eine Woge der Angst überfiel mich, sodass ich mich an den Sessellehnen fest hielt, um mein Zittern zu verbergen.
„Frau Blauberger, mein Name ist Müller“, stellte sich der Fremde freundlich vor. „Ich bin Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit Dresden und habe ein paar Fragen an Sie.“ Er lächelte. Sein Gesicht war rund, seine Haut glatt und rosig wie die
eines wohlgenährten Babys. Seine randlose Brille mit vergoldeten Bügeln, die man wohl kaum in einem DDR-Geschäft zu kaufen bekam, vergrößerte seine bereits großen blauen Augen und die langen Wimpern, die er wie die einer Puppe auf- und niederklappte, als könnte er mir damit seine Harmlosigkeit unter Beweis stellen.
Alles an ihm wirkte mädchenhaft, sein gekringeltes dunkles Haar, die langen weißen Finger, die auf den Oberschenkeln seiner grauen Hose ruhten, und sein schmächtiger Körper. Dabei lächelte er mich aufmunternd an, als wollte er mir Mut zusprechen. „Was können Sie mir über die Frau Eichhorn berichten?“
Ich fuhr zusammen. „Wie bitte?“
„Die Frau Eichhorn“, wiederholte der Mann mit dem Babygesicht und blinzelte durch die Wimpern. „Sie arbeiten ja sehr eng mit ihrer Kollegin Monika Eichhorn zusammen. Es gibt da einige Dinge, die ich über sie wissen möchte. Zum Beispiel, wie die politische Einstellung ihrer Kollegin zu unserem Staat ist.“ Er hielt den Kopf etwas zur Seite geneigt und bewegte seine Wimpern wie eine Primadonna bei ihrem Auftritt auf einer Bühne.
„Sie sind doch nicht wegen Frau Eichhorn hier“, schoss es aus mir heraus wie aus einer Pistole, und ich erschrak über meinen anklagenden Ton.
Mein Gegenüber blinzelte, hielt den Kopf noch schräger und hauchte: „Wieso denn?“
Ich fühlte die Falle, die er mir legte, aber mein Mund war schneller als mein Gehirn. „Na, Sie kommen bestimmt wegen mir.“
„Wegen Ihnen?“ Er blinzelte noch stärker. „Nein, warum sollte ich denn wegen Ihnen hier sein?“ Eine Pause entstand, bevor er wie eine Mutter zum kranken Kind weitersprach: „Wie ich schon sagte, ich möchte nur einige Auskünfte über Frau Eichhorn von Ihnen. Sie sind neben Ihrer Arbeit in der Schule auch privat miteinander bekannt und waren zum Beispiel zusammen im Urlaub. Dadurch kennt man sich besser und erfährt viel über politische Einstellungen des anderen. Hat sich Monika Eichhorn bei derlei Gelegenheit negativ über unseren Staat geäußert?“
Solche Infamie, dachte ich mir. Die wissen also, dass wir zusammen in Urlaub fahren. Worüber wissen die noch Bescheid? Sicher, Monika war diejenige, die mir hin und wieder Nachrichten zuraunte, von denen ich mir nicht erklären konnte, woher sie stammten. Sie wusste von Verhaftungen und Demonstrationen gegen den Staat.
Da sie immer nur in Andeutungen sprach, hatte ich das meiste als Hetze, als Verleumdung gegen die Regierung abgetan. Dessen ungeachtet war immer etwas von ihren Reden bei mir hängen geblieben, auch wenn ich vieles davon nicht wahrhaben wollte. Also musste irgendjemand sie wegen ihrer gefährlichen Reden bei
der Stasi gemeldet haben. Wieso kamen sie zu mir nach Hause und befragten mich nicht in der Schule? Laut aber erklärte ich: „Die Kollegin Eichhorn ist eine ausgezeichnete Mitarbeiterin, die immer zu unserem Staat steht und das durch all ihre Arbeit in der Schule unter Beweis stellt. Es gibt da absolut keine Klagen.“
Ich blickte ihm ins Gesicht, obwohl mir das schwer fiel, und fühlte, wie meine Emotionen mich übermannten, meinen Verstand vernebelten, sodass ich, ohne es zu wollen, fortfuhr: „Sie sind doch in Wirklichkeit wegen mir gekommen, weil ich einen Antrag auf Heirat mit einem Amerikaner gestellt habe.“ Erschrocken hielt ich inne und dachte an Ralf und die Sekretärin, die mich gewarnt hatten.
Herr Müller riss seine runden Augen noch weiter auf und zwinkerte mehrmals, als hätte er Sand in sie bekommen. Sein Mund rundete sich wie bei einem Kleinkind, das schmollte, als er mit gekünstelter Verwunderung fragte: „Ach, wirklich? Das wusste ich gar nicht. Wie sind Sie denn zu einem Amerikaner gekommen?“
Mir war, als hätte man mich in einen der simplen DEFA-Spielfilme gesetzt, dessen Figuren flach und einfach zu durchschauen waren. Es war nahezu lachhaft, wie sich dieser schlechte Schauspieler mir gegenüber benahm, aber gleichzeitig fühlte ich hinter seiner gespielten Ahnungslosigkeit sein Wissen über mich, was mich schaudern ließ.
„Eigentlich wissen wir voneinander seit unserer Kindheit“, setzte ich fort, „weil unsere Familien miteinander befreundet waren. Als er mich vor einigen Jahren besuchte, haben wir uns ineinander verliebt.“
„Ach, wie interessant. Das klingt wie eine echte Liebesgeschichte.“
Sein Mund lächelte, seine Augen ruhten wohlwollend auf mir. „Und wie soll’s nach der Hochzeit weitergehen? Bleibt Ihr zukünftiger Mann dann hier bei uns?“ Seine Stimme klang entgegenkommend.
„Nein. Wir ziehen zu ihm. Er ist Wissenschaftler und könnte nicht in der DDR arbeiten.“
„Oh, Wissenschaftler. In welchem Bereich?“
„In der Fotoindustrie.“
„Könnte er da nicht in Dresden bei Robotron anfangen oder in unserer Filmindustrie?“
„Ich glaube nicht, denn sonst hätte mein Verlobter das schon in Erwägung gezogen“, log ich und fühlte mich in die Enge getrieben. Aufgewühlt überlegte ich, was dieser Herr Müller wohl noch über mich wusste.
„Da wollen Sie also ausreisen und unsere Republik verlassen?“
Um seinen Mund spielte ein feines Lächeln, nicht zynisch, eher wie bei jemandem, der sich um einen sorgt, der es gut mit einem meint und seine uneigennützige Hilfe anbieten möchte.
„Ja und nein. Die Umstände zwingen mich sozusagen dazu“, gab ich vorsichtig zu, meine Worte abwägend. „Ich weiß nicht, wie viel Sie über meine Lebensumstände wissen, aber diese Ehe ist ein ganz neuer Start für mich fünf Jahre nach dem Tod meines ersten Mannes. Es ist kein Protest gegen den Staat, sondern reine Privatsache, nicht gleichzustellen mit einem Ausreiseantrag. Ich war und bin ein guter Staatsbürger und habe immer zu unserem Land gehalten.“ Ich hielt inne. Was redete ich da? Brachte mich meine entsetzliche Furcht dazu, ihm Honig ums Maul zu schmieren? Obwohl mir diese Worte leicht über die Lippen gingen, waren sie unwahr und hohl. Jetzt drosch ich Phrasen wie so viele in diesem Land. Dabei verabscheute ich das politische Schöntun. Hier jedoch ging es nicht um Wahrheitssuche. Jetzt brauchte ich das Wohlwollen dieses Mannes, den mir mein Staat ins Haus geschickt hatte, von dem ich nicht wusste, was er überhaupt von mir wollte, und der mein Herz vor Angst zu wildem Rasen brachte.
„Meine Kinder und ich wollen unsere Staatsbürgerschaft behalten“, fuhr ich fort, „und regelmäßig in die DDR zurückkommen, um den Kontakt zur Heimat nicht zu verlieren.“
Der Mann schwieg einen Moment, und als er ansetzte, mich etwas zu fragen, klingelte es draußen im Flur. In seinem Gesicht ging eine ungewöhnliche Verwandlung vor sich. Er kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Seine Augen fixierten mich mit dem starren Blick einer Schlange, die ihr Opfer mit einem einzigen Biss paralysieren konnte. Ehe ich zur Besinnung kam, hörte ich,
wie draußen jemand die Wohnungstür öffnete, durch den Korridor eilte und nun wuchtig an die Wohnzimmertür klopfte, in deren unmittelbarer Nähe wir saßen. Durch das Milchglas erkannte ich Ralfs stattliche Statur. Ehe ich weiterdenken konnte, riss er die Tür auf und rief: „Hallo Nachbarin!“
Der Stasimann drehte sich mit einem heftigen Ruck zur Wand, so dass Ralf nur seinen Rücken sehen konnte. Ungläubig wanderte mein Blick zwischen den beiden Männern hin und her, ich saß wie betäubt und wagte mich nicht zu rühren.
„Oh“, sagte Ralf entschuldigend, „ich wusste gar nicht, dass du Besuch hast.“ Dabei beugte er sich vor und versuchte dem Mann ins Gesicht zu schauen, als wollte er meinen Gast begrüßen, der sich noch weiter von ihm abwandte und keinerlei Anstalten machte, sich umzudrehen. Ralf zwinkerte mir zu und zuckte die Schultern.
„Da will ich nicht stören. Komme halt ein anderes Mal wieder“, und winkte mir zum Abschied zu. Die Tür klirrte und weg war er.
Ich bewunderte seine Furchtlosigkeit. Mit einem Schlag fühlte ich mich ermuntert und löste mich etwas aus meiner Starre.
Der Stasimann auf meiner Couch verharrte noch einige Augenblicke in seiner Abwehrstellung, und erst als auch die Haustür unten ins Schloss gefallen war, richtete er sich auf. „Wer war das? Wieso kam der hierher?“ fragte er bissig, ein Flattern in seinen Augen. Kein Babygesicht mehr.
„Das war mein Nachbar. Er kommt immer mal so überraschend, wenn er etwas braucht“, gestand ich entschuldigend.
„Mmm.“ Der Mann sah mir forschend ins Gesicht, als könnte er daraus ablesen, ob ich die Wahrheit sagte. „Jedenfalls mag ich derartige Überraschungen gar nicht. Na gut. Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja, Ihr Verlobter arbeitet in der Filmbranche. Bei welcher Firma genau?
„Bei Polaroid.”
„Oh, das ist eine weltberühmte Firma.“
„Ja, Will ist sehr stolz auf seinen Betrieb.“
„In seiner Stellung ist er sicher auf dem neusten Stand der Technik und weiß, was auf dem Weltmarkt los ist.“
„Nehme ich an.“ Der Druck auf meinen Magen verstärkte sich, als hätte jemand einen ungeheuer großen Stein auf ihn gerollt.
Der Stasimann schwieg. Dann beschwichtigte er mich freundlich: „Ich bin sicher, Sie erhalten die Genehmigung für die Heirat. Warum denn nicht?“
„Oh, wirklich? Können Sie mir sagen, wann ungefähr?“
„Nein, das entscheiden andere Genossen.“
„Ach so“, sagte ich gedehnt und dachte: Lüge! Wer, wenn nicht ihr, entscheidet über das Los der Bürger dieses Landes. Ich nahm meinen Mut zusammen und fuhr fort: „Doch vielleicht können Sie mir mit etwas anderem helfen?“
„Womit denn?“
Als ich sein heuchlerisches Lächeln sah, bereute ich meine Anfrage und setzte dennoch fort: „Mein Telefon ist seit Tagen gestört und keiner kann den Schaden beheben. Ich erhalte keine Post, obwohl mir mein Verlobter fast jeden Tag einen Brief schreibt.“
„Ach wirklich? Damit haben wir gar nichts zu tun.“
„Ich muss ihn erreichen, es ist so wichtig für mich. Außerdem warte ich auf Post vom Rat des Kreises wegen der Genehmigung…“
Er unterbrach mich. „Frau Blauberger, ich bin sicher, wir haben nichts damit zu tun. Ich werde mich trotzdem darum kümmern. Sie wissen doch sicher, dass Sie sich jederzeit vertrauensvoll an uns wenden können, falls Sie Probleme haben. Dafür möchte ich Sie aber auch um einen Gefallen bitten.“ Er streckte sich und lächelte
seine falsche Freundlichkeit. „Wenn Sie dann in den USA wohnen, schauen Sie sich ein bisschen für uns um, und wenn Sie auf Urlaub in die DDR kommen, besuchen Sie mich und erzählen mir davon.“
Ein qualvoller Stich durchfuhr meinen Kopf. Ich glaubte, meine Stimme von fern zu hören, als ich antwortete: „Nein, das tut mir leid, das kann ich nicht.“
„Frau Blauberger, ich will mich nur ein bisschen mit Ihnen unterhalten über Ihr neues Leben dort. Weiter nichts. Nur so, ganz privat. Sie erzählen mir ein bisschen von Ihren Eindrücken.“ Er blinzelte wieder wie eine Puppe, die gerade jemand aufgezogen hatte und deren Schlüssel ihr noch im Rücken steckte. Ich atmete hastig
und fühlte kalten Schweiß aus meinen Poren treten. Der Mann mir gegenüber ließ kein Auge von mir. Mir war, als stände ich vor einem bodenlosen Krater. Jede unachtsame Bewegung könnte mich hinabstoßen. Krampfhaft hielt ich mich an den Sessellehnen fest, holte tief Luft und wisperte mehr, als dass ich sprach: „Tut mir
wirklich leid. Das kann ich nicht. Mein Verlobter würde das“, meine Gedanken verwirrten sich, aber ich sammelte mich und beendete den Satz, „…er würde das nicht verstehen, wenn ich… mich mit einem anderen Mann privat treffen würde.“
„Davon braucht er gar nichts zu wissen. Wir könnten uns irgendwo an einem neutralen Ort treffen wie alte Freunde, die sich mal wiedersehen wollen.“
„Nein.“
Das Babygesicht verwandelte sich erneut blitzartig, obwohl es noch genauso rosa und glatt wie zuvor war, hatte es einen fremden Ausdruck angenommen. Es waren seine zusammengezogenen Augen, die mich fixierten, kalt und verachtend. Jetzt bemerkte ich, dass seine Brille vor Sauberkeit funkelte. Der Fremde sprach gedämpft. „Dieses Gespräch bleibt unter uns. Bis zu Ihrem Tode. Sie werden
niemals und nirgends darüber sprechen. Verstanden?“ Seine Stimme, fast im Flüsterton, klang schneidend wie ein gewetztes Messer, dessen Spitze ich in meiner Herzgegend fühlte.
„Ja, natürlich“, antwortete ich zackig wie ein Soldat, der den Fahneneid ablegte.
Er setzte fort. „Wenn Sie irgendjemandem von unserem Gespräch berichten, werden wir es wissen. Wir sind überall. Unsere Arme reichen so weit, wie Sie sich das nicht einmal im Traum vorstellen können.“
„Ja, sicher“, parierte ich erneut und meine Knie bebten.
„Wenn Sie jemals Dritten von unserem Gespräch erzählen, wird es nicht nur Ihnen sehr, sehr schlecht ergehen, sondern auch Ihrer gesamten Familie. Verstanden?“
„Ja, natürlich.“ Mich durchfuhr ein Kälteschauer, sodass ich unkontrollierbar zu zittern begann.
„Und jetzt holen Sie mir etwas zu trinken, ich habe einen ganz trockenen Hals“, kommandierte Herr Müller.
Meine Beine drohten mir zu versagen, als ich aufstand und Richtung Küche hastete. Ich schloss die Schiebertür hinter mir. Mit meinen eiskalten Händen kühlte ich meine Schläfen, deren schmerzvolles Pulsieren ich jetzt wahrnahm. Für einen kurzen
Moment stand ich erstarrt da und wünschte mich weit fort von hier, weg aus dieser Küche, der Wohnung, dem Haus, diesem Land. Puff, nicht mehr da sein, nirgendwo. Mit leerem Blick öffnete ich den Kühlschrank, griff nach einer Flasche Orangina und goss den Saft in ein Glas. Dabei fragte ich mich, wie ich von nun an weiterleben
sollte, mit einer Drohung wie dieser.
Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, trank der Stasimann die Hälfte des Saftes, stellte das Glas auf den Tisch und erklärte mit ruhiger Stimme, als wäre nichts gewesen: „Ich komme wieder, Sie hören von mir.“
Er stand auf, aber wehrte ab, als ich ihn zur Tür begleiten wollte: „Ich kenne meinen Weg.“
Ich lief ins Schlafzimmer und versteckte mich hinter den Gardinen. Der weiße Trabant heulte auf und fuhr knatternd los. Wie angewurzelt verharrte ich und wagte nicht hinauszuschauen. Ich horchte dem Klang des tuckernden Motors nach, bis er sich in der Ferne verlor.
Nachdem ich nach den Kindern geschaut hatte, die Schach miteinander spielten, rannte ich zum Nachbarhaus und klingelte unten an der Haustür. Lena schaute zum Fenster heraus und fragte sichtlich besorgt: „Hast du’s überstanden, möchtest du ein bisschen hochkommen auf ‘nen kleinen Schnaps?“ Als ich verneinte, meinte sie, „Alles klar. Ralf ist schon auf der Treppe nach unten. Rede mit ihm. Das ist am besten. Gute Nacht!“ Sie schloss das Fenster.
Ihr Mann sah mich forschend an.
„Er ist weg“, begann ich tonlos. „Ich zittere noch am ganzen Körper“, und blickte zur Kontrolle an mir herunter, als könnte ich mein Beben sehen. „Ralf, ich wollte dir bloß sagen, wie sehr ich deine Courage bewundere, dass du gekommen bist. Vielen Dank!“
Ralf lachte. „Wie der seinen Kopf weggedreht hat, damit ich ihn nicht sehen konnte. Hast du das bemerkt?“
„Natürlich. So ein Feigling.“
„Ja, diese falschen Typen. Aber den kenne ich nicht, auch wenn ich nur die Hälfte von seinem Gesicht gesehen habe. Sag mal, hast du jemals dein Wohnzimmer verlassen, als er noch da war?“
„Nein, eigentlich nicht. Halt, doch! Er wollte etwas zu trinken haben. Da bin ich mal kurz in die Küche gegangen.“
„Oh nein!“ Ralf griff sich an den Kopf, als müsste er nachdenken. „Hast du dein Wohnzimmer schon nach einer Wanze untersucht?“
„Eine Wanze?“
„Einem versteckten Mikrophon.“
„Ach du Schreck, meinst du wirklich, dass sie das tun?“
„Na, sicher. Du musst alles durchsuchen. Unter der Couch, unter dem Tisch oder den Möbelstücken. Eben dort, wo er gesessen hat.“
„Mache ich dann gleich“, bestätigte ich ihm zögernd, sah Ralf zweifelnd an und wiederholte: „Denkst du wirklich, dass er so was getan hat?“
„Kristina, glaub mir! Guck richtig nach. Hab‘ ich alles schon von anderen gehört.“
Gemeinsam suchten wir mein Wohnzimmer ab, fanden aber nichts.
In der Schule am nächsten Morgen fragte mich unsere Sekretärin: „Hast du deinen hohen Gast gut überstanden und nicht zu viel gesagt?“
„Es war nur ein Routinebesuch“, flüsterte ich und blickte Frau Koller nicht an.
Das war das letzte Mal, dass ich mit jemandem über den Stasibesuch sprach. Niemals wieder äußerte ich mich darüber, zog niemanden ins Vertrauen, nicht meine Schwester oder meine engsten Freunde, nicht einmal Will.
***
Der Vertreter der Staatssicherheit fasste seinen Besuch in meiner Akte so zusammen:
Bericht über eine realisierte Kontaktaufnahme zur DDR-Bürgerin Blauberger.
Das Ziel bestand in der Aufklärung der Position gegenüber dem MfS und Gewinnung von Informationen über konkrete Pläne und Absichten im Zusammenhang der beabsichtigten Eheschließung mit dem USA-Bürger K., Wissenschaftler beim Filmkonzern POLAROID. [rot unterstrichen]
Bei der B. handelt es sich um eine 1,64 m, blauäugige und dem Alter entsprechend modisch gekleidete, attraktive Frau. Sie spricht einen akzentfreien Dialekt. Anhand der Formulierungen, des Verhaltens während des Gesprächs und der Schnelligkeit des Denkens, kann eingeschätzt werden, dass sie über gute intellektuelle Voraussetzungen verfügt.
Während des Gesprächs konnten keine Anzeichen von Zweckverhalten
herausgearbeitet werden.
Z. Zt. absolviert die B. an der Volkshochschule einen Englischsprachkursus.
Die bei Gesprächsbeginn zu verzeichnende Aufregung, hervorgerufen durch die Auffassung, dass sich das MfS ausschließlich mit Staatsfeinden befasst, konnte bei der B. in positiver Hinsicht beeinflusst werden. Vor Beendigung des Gesprächs wurde der B. durch den unterzeichnenden Mitarbeiter mitgeteilt, dass sie sich bei auftretenden Fragen oder Problemen an das MfS wenden kann. Die B. notierte sich
die Telefonnummer der KDfS. Danach erfolgte die Verabschiedung.
***
Da stand nichts über seine missglückte Anwerbung. Kein Wort über meine Ablehnung. Oder gab es einen zweiten Bericht an eine höhere Dienststelle?