14. Inselleben
Ich liege in der Kapitänskoje, meinem breiten Doppelbett im Salon. Dort habe ich mich gestern Abend hingelegt, das weiß ich noch. Geräusche dringen an mein Ohr. Was denn, ist etwa schon wieder Morgen? Ich habe keine Ahnung. Der Verstand will noch nicht, er befindet sich in einem Schwebezustand zwischen Tiefschlaf und hellwach. Von beiden Seiten wird gezogen. Auf der einen Seite zerrt die Neugier, die will wissen, was draußen passiert. Auf der andern hält die Trägheit dagegen und sagt: Weiterschlafen! Drei von fünf Sinnen dämmern benommen vor sich hin: Geschmack, Geruch und Tastsinn. Man kann es auch Arbeitsverweigerung nennen. Mit dem Sehwerkzeug ist überhaupt nichts anzufangen, das schläft noch fest. Es könnte ja wenigstens mal ein Auge öffnen, um nachzusehen, was heute für Wetter ist. Aber nichts, keine Regung. Zuerst versucht das Gehör ohne großen Aufwand die Lage zu peilen. Erkenntnis: Es regnet nicht! Soviel ist schon mal klar, sonst würde es aufs Deck trommeln, wie auf ein Zeltdach, und das würde man hören. Was gibt es sonst noch? Ganz in der Nähe platschen kleine Wellen gegen einen festen Gegenstand. Dazu schreien Möwen, die sich schon wieder oder noch immer zanken. Etwas entfernt ein Hahn, der von seinen morgendlichen Heldentaten berichtet. Und durch diese ganze Szene trampeln irgendwelche Pferde, die sich langsam entfernen. Hufe auf Pflaster. Rhythmisch genau, wie ein Uhrwerk. Dazu Pferdeschnauben und das Klappern von Wagenrädern.
Sonst nichts, gar nichts.
In welchem Jahrhundert befinden wir uns eigentlich? Achtzehntes, neunzehntes? Haben wir schon die Monarchie überwunden, oder glauben wir noch an den Klapperstorch? Diese Ruhe ist unheimlich. Diese Stille bin ich nicht gewöhnt. Aber es tut gut. Nichts stört, nichts drängelt. Es gibt absolut keinen Grund jetzt wach zu werden.
Doch dann reißt mich ein Geräusch aus meinem romantischen Traum, das irgendwie nicht in diese Szene passt:
Das hektische Klacken kleiner Kunststoffräder an Rollkoffern.
Es ist neun Uhr, das erste Fährschiff läuft ein. Die Rollkoffer versammeln sich am Hafen und wollen zurück zum Festland. Dafür kommen neue Rollkoffer. Das Geräusch bleibt dasselbe. Am Hafen befindet sich ein Parkplatz für Handwagen. Manche tragen den Namen eines Hotels. Will jemand seinen Rollkoffer schonen, nimmt er einen Handwagen. Auf jeden Fall wird gelaufen. Wer nicht gut zu Fuß ist, sollte nicht nach Hiddensee kommen. Kein Zug, kein Bus, kein Taxi. Laufen, Fahrrad fahren oder Pferdekutsche.
Die Hiddenseer verzichten bewusst auf den privaten Autoverkehr. Es gibt keine Abgase, kein Hupen, keine Staus, keine Alltagshektik. Der einzige Fuhrunternehmer auf der Insel fährt mit Batteriestrom. Er fährt alles, von der Post bis zum Bierkasten. Nur die Landwirte wollen oder können auf Diesel nicht verzichten. Aber das fällt kaum ins Gewicht.
Vermutlich war es diese einmalige Ruhe, die vor schlaffen einhundert Jahren viele Künstler nach Hiddensee gezogen hat. Im Hotel Hitthim, gleich am Hafen, hängt noch immer die Ahnengalerie prominenter Besucher: Thomas Mann, Albert Einstein, Heinrich George, Paul Kempe und so weiter. Hier war man unter sich. Keine lästigen Autogrammjäger, keine Öffentlichkeit, nur pure Erholung. Vielleicht war es auch der deutsche Vorzeigedichter und Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann, der viele Künstler anzog. Kloster, die Hauptstadt der schönen Künste, ein Sommerlager für deutsche Intellektuelle.
Auf der Insel sagte man: „Der Sommer auf Hiddensee beginnt, wenn die Weinlieferung für Gerhart Hauptmann kommt. Und er endet, wenn sein Weinkeller leer ist.“
1929 kaufte Hauptmann das Haus Seedorn in Kloster. Hiddensee wurde zu seiner Sommerresidenz. Das Haus ist im Originalzustand erhalten und gehört heute zum Gerhart-Hauptmann-Museum.
Dort will ich unbedingt hin, Hauptmann interessiert mich. Aber der Verstand ist inzwischen vollständig erwacht und macht Stress. Er meint, der Wind würde sich drehen. Wenn wir weiter nach Westen wollen, sollten wir den Ostwind nutzen, solange er noch bläst. Natürlich habe ich keine Lust, den größten Streckenabschnitt unserer Reise zu motoren. Von Kloster haben wir aber auch noch nicht viel gesehen, wir sind ja gestern erst angekommen. Ich muss eine Entscheidung treffen. Weiter oder bleiben?
Beim Frühstück fällt der Groschen. Mit der Kaffeetasse in der Hand sage ich zu Kubbel: „Kultur geht vor! Wir bleiben.“
Was für ein großer Satz und was für eine kluge Entscheidung! Später wird sich herausstellen, dass es den ganzen Tag über windstill blieb. Also hätte uns der hektische Aufbruch auch nichts genützt. Ich freue mich über unsere Gelassenheit, die passt gut zu Hiddensee.
Wir sitzen noch immer im Cockpit und frühstücken ausgiebig. Unser Schiff liegt im hinteren Hafenbecken, an der Westseite der Nordpier, direkt neben dem Räucherschiff. Ein paar Rollkoffer klappern vorbei. Als ich mit dem Geschirr hinüber zum Waschraum laufe, fragt mich eine Schweizer Touristin nach dem Weg. Sie glaubt, ich sei Einheimischer. Wenn das so ist, dann müssen wir aber schnellstens die Insel erkunden.
Mit einer ganzen Reisegruppe von Touristen machen wir uns zu Fuß auf den Weg zum Dornbusch, damit ist das Hügelland im Nordteil der Insel gemeint. Vorbei geht die Wanderung an prallen Sanddornbüschen. Erntezeit ist im Spätherbst. Die kleinen Früchte werden auch gern die „Zitronen des Nordens“ genannt, obwohl sie einen zwanzigfach (!) höheren Vitamin-C-Gehalt haben als ihre Schwestern aus dem Süden. Vielleicht sollte man die Zitronen lieber den „Sanddorn des Südens“ nennen.
Hauptziel der meisten Exkursionen ist der Leuchtturm, das Wahrzeichen der Insel. Er steht auf dem Schluckswiekberg, mit 72 Metern die höchste Erhebung. Von hier hat man einen phantastischen Rundumblick. Bei guter Sicht erkennt das bloße Auge im Nordwesten sogar Rügens dänische Schwesterinsel Møn. Wer von hier nach Osten absteigt, gelangt in die Ortschaft Grieben, das älteste Dorf der Insel. Wir entscheiden uns in die andere Richtung zu laufen und das Ausflugslokal „Zum Klausner“ aufzusuchen. Perfektes Biergartenwetter. Es gibt Erbsensuppe und Jever.
In der Speisekarte lese ich folgenden Text:
Hiddensee verwandelt Nahes und Fernes.
Lärm in Stille, Hektik in Ruhe und Gelassenheit.
Kaum der Fähre entstiegen, beginnt der Inselrhythmus zu
wirken, ist das nahe Festland sehr weit weggerückt.
Das ´söte Länneken`ist stressfreie Zone.
Und die Wiederentdeckung der Gemächlichkeit
wird zum eigentlichen Urlaubsabenteuer.
Also Vorsicht, Achtung, aufgepasst!
Diese Insel lässt womöglich nicht mehr los.
„Sötes Länneken“ heißt „süßes Ländchen“, so nennen die Einheimischen ihre Insel. Es sieht fast so aus, als müssten wir noch eine neue Sprache erlernen, wenn wir wirklich zu Einheimischen werden wollen.
Der „Klausner“ war bis zum Mauerfall Betriebsferienheim eines Berliner Maschinenbauwerkes. Jetzt ist die Pension offen für alle, die Ruhe und Erholung suchen.
Hier an der Westküste soll es die schönsten Sonnenuntergänge geben, wird behauptet. Aber solange wollen wir nicht warten. Eine Treppe führt von der Steilküste hinunter zum Strand und von dort gelangen wir bequem zurück nach Kloster.
Ich liebe Hafentage, man lässt die Seele baumeln und darf mit gutem Gewissen nichts tun. Der Müßiggang ist eine hohe Kunst. Es gelingt nicht jedem und nicht immer, denn auch das Nichtstun will gekonnt sein. Eine Tätigkeit ist dem Müßiggänger allerdings erlaubt, er darf sich mit den schönen Künsten beschäftigen. Also, auf zu Gerhart Hauptmann.
Das Museum besteht aus einem großzügigen Grundstück direkt im Zentrum von Kloster. Folgendes schrieb der Nobelpreisträger selbst über sein Sommerhaus auf Hiddensee:
... erst nach einem halben Jahrhundert gegenseitiger Treue kam der Augenblick, auf dem Eiland ein kleines Anwesen zu erwerben und also dort wirklich Fuß zu fassen. Alte Liebe rostet nicht: Hiddensee hat sich mir, neu und jung, im hohen Alter geschenkt, und sein Zauber verjüngt mich jedes Mal, wenn meine Sohle seinen geliebten Boden berührt.
Die Wand hinter seinem Bett ist vollgekritzelt mit flüchtigen Gedanken, die dem Künstler nachts erschienen sind und morgens womöglich verschwunden wären. Notizblöcke gab es wahrscheinlich noch nicht. Neu ist auch der Literaturpavillon neben dem Haupthaus. Hier findet der geneigte Besucher nicht nur sämtliche Bücher Hauptmanns, sondern auch thematisch angrenzende Literatur und Regionales von Ostsee über Rügen bis Hiddensee. Dazu gibt es einen kleinen Schluck aus dem Weinkeller des Meisters. Passend zur Literatur wird die Weinempfehlung gleich mitgeliefert: „Für Schiller nehmen Sie am besten einen Rosé aus dem Württembergischen. Zu Goethe passen fränkische Weine. Hauptmann dagegen bevorzugte die badischen Winzer aus Ihringen am Kaiserstuhl.“
Wir lassen uns überzeugen und kaufen für den Abend einen Weißburgunder aus dem Weinland Baden, der passt gut zu unserem Fisch.
Es war eine sehr gute Entscheidung, einen Tag länger auf Hiddensee zu bleiben. Kloster ist ein magischer Ort. Gern würde ich noch länger verweilen und meine Talente im Müßiggang pflegen. Kloster bekommt auf meiner persönlichen Favoritenliste der schönsten Häfen unbedingt einen vorderen Platz.
Über die Einbürgerung auf Hiddensee muss ich noch mal nachdenken. Rügen hat diesbezüglich nämlich ganz eigene Gesetze. Ein Rüganer, also ein echter Bürger Rügens, kann man demnach erst in der dritten Generation werden. Und das auch nur, wenn die Familie durchweg auf Rügen gelebt hat. Bis dahin bleibt man ein Fremder oder höchstens ein Rügener. Ich glaube, das dauert mir zu lange.